Unsichtbar
weil euer Vater zu beschäftigt war und nicht mitkommen konnte. Andy war kein guter Schwimmer, gab sich aber alle Mühe, einer zu werden, und mit seinem unbezwinglichen Hang zu tollkühnen Aktionen hatte er schon so viele Dummheiten angestellt, dass er nach Meinung aller Beobachter längst einen Meisterbrief für Schabernack verdient hätte. Am dritten Tag ihres Aufenthalts, gegen sechs Uhr morgens, als eure Mutter noch in ihrem Zimmer schlief, setzte Andy es sich in den Kopf, unbeaufsichtigt eine Runde schwimmen zu gehen. Bevor er ging, setzte der siebenjährige Abenteurer sich hin und schrieb, so gut er konnte, folgende kurze Nachricht: Liebe Mom ich bin im Seh viele Griise Andy. Sodann schlich er aus dem Bungalow, sprang ins Wasser und ertrank. Ich bin im Seh.
Du willst nicht daran denken. Du bist jetzt fortgelaufen, und du hast nicht den Mut, in jenes Haus der Schreie und des Schweigens zurückzukehren, das Wehklagen deiner Mutter im Schlafzimmer oben zu hören, wieder einmal den Medizinschrank zu öffnen und die Flaschen mit Tranquilizern und Antidepressiva zu zählen, an die Ärzte, die Zusammenbrüche, den Selbstmordversuch und den langen Klinikaufenthalt zu denken, als du zwölf Jahre alt warst. Du willst dich nicht an die Augen deines Vaters erinnern, wie sie jahrelang einfach durch dich hindurchzusehen schienen, und auch nicht an seinen roboterhaften Tagesablauf vom morgendlichen Aufstehen um Punkt sechs bis zu seiner Rückkehr von der Arbeit niemals vor neun Uhr abends und nicht an seine Weigerung, dir oder deiner Schwester gegenüber den Namen seines toten Sohns zu erwähnen. Du hast ihn kaum noch gesehen, und da deine Mutter praktisch nicht mehr in der Lage war, sich um den Haushalt zu kümmern oder auch nur eine Mahlzeit zuzubereiten, war es auch mit dem Ritual des gemeinsamen Abendessens der Familie vorbei. Putzen und Kochen besorgten stetig wechselnde sogenannte Hausmädchen, vorwiegend abgearbeitete Schwarze jenseits der fünfzig oder sechzig, und da eure Mutter an den meisten Abenden lieber zurückgezogen in ihrem Zimmer aß, habt ihr euch, du und deine Schwester, an dem rosa Resopaltisch in der Küche allein gegenübergesessen. Wo euer Vater zu Abend aß, war euch ein Rätsel. Ihr habt angenommen, dass er Restaurants besuchte, vielleicht auch immer dasselbe Restaurant, aber er hat nie ein Wort davon gesagt.
Es quält dich, über diese Dinge nachzudenken, aber jetzt, da deine Schwester wieder bei dir ist, kannst du gar nicht anders: Die Erinnerungen überfallen dich unwillkürlich, und wenn du an dem langen Gedicht arbeitest, das du im Juni begonnen hast, geschieht es nicht selten, dass du mitten im Satz innehältst, aus dem Fenster starrst und in Gedanken an deine Kindheit versinkst.
Du erkennst jetzt, dass du schon viel früher, als du vermutet hast, vor ihnen weggelaufen bist. Wäre Andy nicht gestorben, wärst du wahrscheinlich bis zum Augenblick deines Auszugs von zu Hause ein willfähriger, gehorsamer Sohn geblieben, doch als die Familie dann auseinanderbrach - deine Mutter in einem Zustand unaufhörlicher, von Schuldgefühlen geplagter Trauer versank und dein Vater sich kaum noch blicken ließ -, musstest du dich anderswo nach einem auskömmlichen Dasein umsehen. In der begrenzten Welt der Kindheit bedeutete «anderswo» die Schule und die Baseballplätze, wo du mit deinen Freunden spieltest. Du wolltest dich in allem hervortun, und da du das Glück hattest, mit ordentlichen Geistes- und Körperkräften ausgestattet zu sein, zähltest du nicht nur in den meisten Fächern, sondern auch im Sport stets zu den Besten deiner Klasse. Nie hast du dir die Zeit genommen, über all das nachzudenken (du warst zu jung dafür), doch steht fest, dass diese Triumphe dir über die erstickende Atmosphäre zu Hause hinweghalfen, und je mehr Erfolg du hattest, desto nachdrücklicher bekräftigtest du deine Unabhängigkeit von Mutter und Vater. Natürlich wollten sie nur dein Bestes, sie handelten nicht bewusst gegen dich, aber irgendwann war es so weit (da mochtest du elf Jahre alt sein), dass dir die Bewunderung deiner Freunde mindestens ebenso wichtig war wie die Liebe deiner Eltern.
Stunden nachdem deine Mutter in die Nervenheilanstalt abtransportiert worden war, schworst du beim Namen deines toten Bruders einen Eid, bis ans Ende deines Lebens ein guter Mensch sein zu wollen. Du warst allein im Bad, erinnerst du dich, kämpftest allein im Bad gegen die Tränen an, und mit «gut» meintest du ehrlich,
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