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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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stattgefunden, im Dunkeln, nachdem ihr zu Bett gegangen wart: geredet habt ihr entweder durch die offene Tür zwischen euren Zimmern oder einer im Bett des andern, Seite an Seite auf dem Rücken, den Blick an die unsichtbare Decke gerichtet. Damals habt ihr euch wie Waisen gefühlt, im Stockwerk unter euch spukten die Geister eurer Eltern, und das gemeinsame Schlafen in einem Bett war ein natürlicher Reflex, ein zuverlässiger Trost, ein Gegenmittel gegen das Zittern und die Tränen, die in den Monaten nach Andys Tod so häufig flossen.
    Intimitäten dieser Art waren die nie hinterfragte Basis deiner Beziehung zu deiner Schwester. Das alles ging auf die allerersten Anfänge zurück, bis an den Rand der bewussten Erinnerung, und du wüsstest nicht einen einzigen Augenblick zu nennen, wo du in ihrer Gegenwart Schüchternheit oder Furcht empfunden hättest. Du hast mit ihr gebadet, als ihr kleine Kinder wart, ihr habt bei «Doktorspielen» eifrig eure Körper erforscht, und an stürmischen Nachmittagen, wenn ihr nicht aus dem Haus durftet, sprang Gwyn am liebsten mit dir zusammen pudelnackt auf dem Bett herum. Nicht nur, weil das Springen ihr Spaß machte, wie sie es ausdrückte, sondern auch, weil sie so gern deinen Penis auf und ab schwingen sah, und so winzig dieses Organ damals auch gewesen sein mag, tatest du ihr bereitwillig den Gefallen, denn das brachte sie jedes Mal zum Lachen, und nichts machte dich glücklicher, als deine Schwester lachen zu sehen. Wie alt warst du da? Vier? Fünf? Irgendwann freilich wollen Kinder vom ungestümen, animalischen Nudismus der Frühzeit nichts mehr wissen, und spätestens im sechsten oder siebenten Lebensjahr sind die Mauern des Schamgefühls unüberwindlich. Bei dir und Gwyn war das aus irgendeinem Grund nicht so. Mag sein, ihr habt nicht mehr zusammen in der Wanne geplanscht, nicht mehr Doktor gespielt, nicht mehr auf dem Bett herumgetobt, aber dennoch habt ihr euch, was eure Körper betraf, eine ganz und gar unamerikanische Ungeniertheit bewahrt. Die Tür des von euch benutzten Badezimmers blieb immer offen, und wie oft bist du an dieser Tür vorbeigegangen und hast Gwyn in die Toilette pinkeln sehen, wie oft hat sie einen Blick auf dich erhascht, wenn du ohne einen Faden am Leib aus der Dusche gestiegen bist? Für euch war es völlig natürlich, einander nackt zu sehen, und wenn du jetzt, im Sommer 1967, den Stift hinlegst, aus dem Fenster schaust und solchen Kindheitserinnerungen nachhängst, glaubst du eure Unbefangenheit darauf zurückführen zu können, dass du damals das Gefühl hattest, dein Körper gehöre ihr, dass ihr beide einander gehört habt und ein anderes Verhalten euch daher unvorstellbar war. Gewiss, im Lauf der Zeit wurdet ihr ein wenig zurückhaltender, aber selbst als eure Körper sich zu verändern begannen, habt ihr euch nicht vollständig voreinander zurückgezogen. Du erinnerst dich an den Tag, als Gwyn in dein Zimmer kam, sich auf dein Bett setzte und ihre Bluse hochzog, um dir die erste winzige Schwellung ihrer Brustwarzen zu zeigen, die früheste Andeutung ihrer aufkeimenden Brüste. Du erinnerst dich, wie du ihr deine ersten Schamhaare und eine deiner ersten pubertären Erektionen gezeigt hast, und du erinnerst dich auch, wie du neben ihr im Bad standest und das Blut an ihren Beinen hinunterlaufen sahst, als sie ihre erste Periode hatte. Keiner von euch hat je gezögert, zum anderen zu gehen, wenn dergleichen Wunder geschahen. Lebensverändernde Ereignisse verlangten nach einem Zeugen, und wer war für diese Rolle besser geeignet als einer von euch beiden?
    Dann kam die Nacht des großen Experiments. Eure Eltern waren übers Wochenende verreist und hatten entschieden, du und deine Schwester wärt alt genug, ohne fremde Aufsicht allein aufeinander aufzupassen. Gwyn war fünfzehn, du vierzehn. Sie war schon fast eine Frau, und du ließest gerade deine Kindheit hinter dir, beide wart ihr Teenager und hattet schwer mit den Frustrationen dieser Lebensphase zu kämpfen: von morgens bis abends an Sex denken, unablässig masturbieren, halb wahnsinnig vor Begierde, eure Körper entflammt von wollüstigen Phantasien, voller Sehnsucht, von jemandem berührt zu werden, von jemandem geküsst zu werden, heißhungrig und unerfüllt, erregt und allein, verdammt. In der Woche vor der Abreise eurer Eltern hattet ihr zwei offen über das Dilemma gesprochen, über den großen Widerspruch, alt genug zu sein, es zu wollen, aber zu jung, es zu bekommen. Die Welt hatte

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