Unsichtbar
haben du und deine Schwester jedes Jahr seinen Geburtstag gefeiert. Nur ihr zwei, ohne Eltern, Verwandte oder andere Gäste. In den ersten drei Jahren, als ihr beide noch jung genug wart, den Sommer in einem Ferienlager zu verbringen, habt ihr die Party im Freien abgehalten; mitten in der Nacht seid ihr aus euren Hütten geschlichen und über die dunklen Spielplätze zu der Wiese am Nordrand des Geländes gelaufen, habt euch in den Wald geschlagen und mit Taschenlampen einen Weg durchs Unterholz gesucht - beide mit einem Stück Kuchen oder einem Keks in der Hand, Naschwerk, das ihr nach dem Abendessen aus dem Speisesaal habt mitgehen lassen. Nach der Zeit der Ferienlager habt ihr drei Sommer in Folge im Supermarkt eures Vaters gearbeitet, und da wart ihr am sechsundzwanzigsten Juli also immer daheim und konntet den Geburtstag eures Bruders in Gwyns Zimmer im zweiten Stock des Hauses feiern. Die nächsten zwei Jahre waren die schwierigsten, denn in diesen beiden Sommern wart ihr auf Reisen und an dem Termin weit voneinander entfernt, aber immerhin konntet ihr das Ritual in verkürzter Form telefonisch abhalten. Letztes Jahr bist du mit dem Bus nach Boston gefahren, wo Gwyn mit ihrem damaligen Freund zusammenlebte, und ihr zwei habt ein Restaurant besucht und dort euer Glas zum Gedenken an den verstorbenen Andy erhoben. Jetzt steht ein weiterer sechsundzwanzigster Juli bevor, und zum ersten Mal seit langer Zeit verbringt ihr wieder einen Sommer gemeinsam und werdet eure kleine Fete in der Küche eurer Wohnung in der 107th Street feiern.
Es ist keine Party im herkömmlichen Sinn des Worts. Im Lauf der Jahre habt ihr eine Reihe strikt einzuhaltender Regeln entwickelt, und mit nur geringfügigen Abweichungen, die mit eurem Alter zusammenhingen, war jeder sechsundzwanzigste Juli eine Wiederaufführung aller sechsundzwanzigsten Julis der vergangenen zehn Jahre. Im wesentlichen besteht das Geburtstagsessen aus einer Unterhaltung in drei Teilen. Ist das Essen verzehrt und das dreiteilige Gespräch beendet, erscheint ein kleiner Schokoladenkuchen, verziert mit einer Kerze, die in seiner Mitte brennt. Ihr singt das Lied nicht. Eure Lippen formen die Worte, ganz leise, nur flüsternd sprecht ihr den Text, aber ihr singt nicht. Und ihr blast auch nicht die Kerze aus. Ihr lasst sie herunterbrennen, und dann lauscht ihr dem Zischeln, mit dem die Flamme in dem kleinen geschmolzenen Schokoladensee erlischt. Nach einem Stück Kuchen öffnet ihr eine Flasche Scotch. Alkohol ist eine neue Zutat, eingeführt erst 1963 (im letzten Supermarktsommer, als du sechzehn warst und Gwyn siebzehn), aber in den nächsten zwei Jahren wart ihr getrennt und hattet nichts zu trinken, und letztes Jahr warst du in der Öffentlichkeit und musstest deinen Konsum folglich zügeln. Dieses Jahr, allein in eurer New Yorker Wohnung, habt ihr beide vor, ordentlich einen zu heben.
Gwyn hat zum Essen Lippenstift und Make-up aufgelegt und trägt goldene Ohrringe und eine blassgrüne Sommerbluse, die das Grün ihrer graugrünen Augen noch lebhafter erscheinen lässt. Du hast ein weißes Oxfordhemd mit kurzen Ärmeln und Button-down-Kragen an und dir die einzige Krawatte, die du besitzt, um den Hals gebunden, dieselbe Krawatte, über die sich Born im vorigen Frühling lustig gemacht hat. Gwyn lacht, als sie dich in diesem Aufzug erblickt, und sagt, du siehst aus wie ein Mormone - einer dieser ernsten jungen Männer, die durch die Welt ziehen, an Türen klopfen und Broschüren verteilen, ein Missionar mit heiligem Auftrag. Unsinn, antwortest du. Du habest keinen Bürstenschnitt, dein Haar sei nicht blond, und deshalb könne man dich niemals mit einem Mormonen verwechseln. Trotzdem, sagt Gwyn, du siehst ganz schön seltsam aus. Wenn nicht wie ein Mormone, fährt sie fort, dann vielleicht wie ein angehender Buchhalter. Oder ein Mathematikstudent. Oder ein Möchtegernastronaut. Nein, nein, gibst du zurück - ein Bürgerrechtler in den Südstaaten. Na schön, sagt sie, du hast gewonnen, und gleich darauf legst du Hemd und Krawatte ab, verlässt die Küche und ziehst etwas anderes an. Gwyn lächelt, als du zurückkommst, macht aber keine weitere Bemerkung über deine Garderobe.
Wie gewöhnlich ist es sehr warm, und da ihr die Temperatur in der Küche nicht noch steigern wollt, habt ihr nicht den Herd benutzt, sondern eine leichte sommerliche Mahlzeit bereitet: gekühlte Suppe, Aufschnitt (Schinken, Salami, Roastbeef) und einen Salat mit Tomaten. Dazu gibt es
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