Unsichtbar
italienisches Brot und gekühlten Chianti in einer mit Stroh umhüllten Flasche (der billige Wein, der bei Studenten damals in Mode war). Nach den ersten Löffeln der kalten Kressesuppe beginnt ihr die dreiteilige Unterhaltung. Das ist für euch der Kern des Experiments, der allerwichtigste Grund, dieses jährliche Fest zu feiern. Alles andere - die Mahlzeit, der Kuchen, die Kerze, der Text des Geburtstagslieds, der Schnaps - ist bloßes Beiwerk.
Erste Stufe: Ihr redet über Andy in der Vergangenheitsform, holt alles hervor, was ihr von ihm in Erinnerung habt, als er noch lebte. Das ist jedes Mal der längste Abschnitt des Rituals. Ihr erzählt euch eure Erinnerungen an vergangene Jahre, doch immer scheinen auch noch zusätzliche aus eurem Unterbewussten an die Oberfläche zu dringen. Ihr versucht, den Ton leicht und heiter zu halten. Schließlich ist das keine Übung in Morbidität, sondern eine Feier, und Lachen ist zu jeder Zeit gestattet. Ihr wiederholt Worte, die er als Kleinkind falsch ausgesprochen hat: Hangaburger statt Hamburger, Mönch statt Mensch, Tatti statt Papier und das vollkommen logische, aber irrsinnige Mommy's Ami für Miami, nachdem eure Mutter einmal diese Stadt erwähnt hatte. Ihr redet von seiner Käfersammlung, seinem Superman-Umhang und seinen Windpocken. Ihr erinnert euch, wie ihr ihm das Radfahren beigebracht habt. Ihr erinnert euch an seine Abneigung gegen Erbsen. Ihr erinnert euch an seinen ersten Schultag (Tränen und Qualen), seine aufgeschürften Ellbogen, seinen Schluckauf. Nur sieben Jahre auf dieser Erde, aber jedes Jahr kommt ihr zwei zu demselben Schluss: Die Liste ist unerschöpflich. Und doch müsst ihr jedes Jahr feststellen, dass ein wenig mehr von ihm entflohen ist, dass trotz all eurer Bemühungen immer weniger von ihm zu euch zurückkommt, dass ihr machtlos seid, sein allmähliches Verschwinden zu verhindern.
Zweite Stufe: Ihr redet über ihn in der Gegenwartsform. Ihr malt euch aus, was für ein Mensch aus ihm geworden wäre, wenn er heute noch leben würde. Seit zehn Jahren führt er in euch dieses Schattendasein, ein Phantombruder, der in einer anderen Dimension herangewachsen ist, unsichtbar und doch atmend, atmend und denkend, denkend und fühlend, und ihr folgt ihm seit seinem achten Lebensjahr, folgt ihm seit mehr Jahren, als er unter den Lebenden weilte, und jetzt, da er siebzehn ist, hat sich der Abstand zwischen ihm und euch wieder ein wenig verringert und etwas an Bedeutung verloren, und euch beiden, dir und deiner Schwester, kommt die schockierende Erkenntnis, dass er mit siebzehn wahrscheinlich keine Jungfrau mehr ist, dass er Gras geraucht und sich betrunken hat, dass er sich rasiert und masturbiert, ein Auto fährt, schwierige Bücher liest, sich überlegt, auf welches College er gehen soll, und nicht mehr lange brauchen wird, um mit euch gleichzuziehen. Gwyn bricht in Tränen aus und sagt, sie könne das nicht mehr ertragen, sie wolle das nicht mehr, aber du bittest sie, noch ein paar Minuten durchzuhalten, ihr zwei brauchtet das nie wieder zu tun, das sei die letzte Geburtstagsparty, es werde nie mehr eine geben, aber Andy zuliebe müsstet ihr diese eine noch zu Ende bringen.
Dritte Stufe: Ihr redet von der Zukunft, von dem, was Andy zwischen heute und seinem nächsten Geburtstag widerfahren wird. Das war immer der einfachste Teil, der vergnüglichste Teil, und in den Jahren zuvor habt ihr eurer Phantasie immer begeistert freien Lauf gelassen. Dieses Jahr ist es anders. Bevor ihr mit dem dritten und letzten Teil eurer Unterhaltung anfangen könnt, hält deine überreizte Schwester sich plötzlich die Hand vor den Mund, springt vom Stuhl und rennt aus der Küche.
Du findest sie im Wohnzimmer, weinend auf dem Sofa. Du setzt dich neben sie, legst ihr einen Arm um die Schultern und sprichst besänftigend auf sie ein. Beruhige dich, sagst du. Alles ist gut, Gwyn. Es tut mir leid ... ich hätte dich nicht so drängen sollen. Es ist meine Schuld.
Wie schmal ihre bebenden Schultern sind, wie zierlich die Knochen unter ihrer Haut, wie ihre Rippen sich an deine Rippen pressen, ihre Hüfte an deine Hüfte, ihr Bein an dein Bein. Noch nie in all den Jahren, die du sie kennst, hast du sie so unglücklich, so von Trauer überwältigt erlebt.
Es hat keinen Sinn, sagt sie schließlich, den Blick gesenkt, die Worte an den Fußboden gerichtet. Ich habe den Kontakt zu ihm verloren. Jetzt ist er weg, und wir werden ihn nie mehr wiederfinden. In zwei Wochen werden es
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