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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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aber im Bett sei er ein Egoist gewesen, unaufmerksam, zu sehr mit seinen eigenen Bedürfnissen beschäftigt, und sie habe sich nicht vorstellen können, einen solchen Mann bis ans Ende ihres Lebens ertragen zu müssen. Jetzt dreht sie sich zu dir um, und mit einem vollkommen ernsten und überzeugten Ausdruck in ihren Augen erklärt sie dir, was sie unter Liebe versteht; sie will wissen, ob du ihre Ansicht teilst oder nicht. Wahre Liebe, sagt sie, ist es dann, wenn es dir ebenso viel Lust bereitet, Lust zu spenden wie zu empfangen. Was meinst du, Adam? Habe ich recht oder nicht? Du antwortest, sie habe recht. Du sagst, das sei eines der klügsten Dinge, die sie jemals gesagt habe.
    Wann fängt es an? Wann manifestiert sich die Idee, die euch beiden im Kopf herumgeht, als Handeln in der physischen Welt? Beim dritten Glas, als Gwyn sich vorbeugt und ihren Drink auf dem Behelfstisch abstellt. Du hast dir vorgenommen, nicht selbst den ersten Schritt zu machen, dich zu zügeln und sie erst anzufassen, wenn sie dich anfasst, denn erst dann wirst du zweifelsfrei wissen, dass sie will, was du willst, dass du ihre Wünsche nicht falsch gedeutet hast. Natürlich bist du angetrunken, aber nicht übermäßig, nicht so sehr, dass du den Verstand verloren hast und nicht ganz genau weißt, worauf du dich einlässt. Du und deine Schwester seid nicht mehr die leichtfertigen, ahnungslosen Kinder, die ihr in der Nacht des großen Experimentes wart, und was ihr jetzt vorhabt, ist ein ungeheures Vergehen, ein finsterer Frevel nach allen irdischen und göttlichen Gesetzen. Aber das stört dich nicht. Die schlichte Wahrheit sieht so aus: Du schämst dich deiner Gefühle nicht. Du liebst deine Schwester. Du liebst sie mehr als jeden anderen Menschen, den du kennst und jemals in diesem Jammertal kennenlernen wirst, und da du in etwa einem Monat das Land verlassen und erst ein ganzes Jahr später zurückkehren wirst, ist das jetzt deine einzige Chance, eure einzige Chance, denn sehr wahrscheinlich wird in der Zeit, die du außer Landes bist, ein anderer Timothy Krale in Gwyns Leben treten. Nein, du hast den Schwur nicht vergessen, den du mit zwölf Jahren geleistet hast, das Versprechen, das du dir selbst gegeben hast, dein Leben als moralisch verantwortungsbewusster Mensch zu führen. Du willst ein guter Mensch sein, und du kämpfst jeden einzelnen Tag darum, den Eid zu halten, den du beim Andenken an deinen toten Bruder abgelegt hast, aber als du auf dem Sofa sitzt und deine Schwester ihr Glas auf den Tisch stellen siehst, sagst du dir, Liebe und Moral haben nichts miteinander zu tun, und solange ihr euch selbst oder jemand anderem keinen Schaden zufügt, wirst du dein Wort nicht brechen.
    Sekunden später stellst auch du dein Glas auf den Tisch. Ihr zwei lehnt euch auf dem Sofa zurück, und Gwyn nimmt deine Hand und verschränkt ihre Finger mit deinen. Sie fragt: Hast du Angst? Du sagst nein, du hast keine Angst, du bist außerordentlich glücklich. Ich auch, sagt sie, und dann gibt sie dir einen Kuss auf die Wange, sehr sanft, es ist nur ein Hauch, eine sachte Berührung deiner Haut mit ihren Lippen. Du begreifst, dass es langsam gehen, sich in winzigen Schritten entwickeln muss, dass es lange Zeit ein schwankender, zögernder Tanz um Ja und Nein sein wird, und auch dir ist es so lieber, denn falls einer von euch es sich doch noch anders überlegen sollte, habt ihr auf diese Weise Zeit genug, einen Rückzieher zu machen und die Sache abzubrechen. Was die Phantasie anregt, behält man in aller Regel besser für sich, und Gwyn ist sich dessen bewusst, sie ist klug genug zu wissen, dass die Kluft zwischen Gedanke und Tat gewaltig sein kann, ein Ozean so groß wie die ganze Welt. Also wagt ihr euch sehr vorsichtig ins Wasser, mit kleinen Babyschritten, streift euch mit den Lippen über den Hals, bewegt minutenlang, ohne dabei den Mund aufzumachen, eure Lippen an den Lippen des anderen, und obwohl ihr euch fest in den Armen haltet, sind eure Hände ganz still. So vergeht eine gute halbe Stunde, und keiner von euch scheint dem ein Ende machen zu wollen. Und dann öffnet deine Schwester ihren Mund. Und dann öffnest du deinen Mund, und ihr beide stürzt zusammen kopfüber in die Nacht.

    Es gibt keine Regeln mehr. Das große Experiment war eine einmalige Angelegenheit, jetzt aber, da ihr beide über zwanzig seid, haben die Einschränkungen eurer pubertären Ausgelassenheit keine Geltung mehr, und die nächsten vierunddreißig Tage bis zu deiner

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