Unsichtbar
zehn Jahre sein. Das ist die Hälfte deines Lebens, Adam. Nächstes Jahr wird es die Hälfte des meinen sein. Das ist zu lang. Der Abstand wird immer größer. Die Zeit wird immer länger, mit jeder Minute treibt er weiter und weiter von uns fort. Lebwohl, Andy. Schick uns mal eine Postkarte, in Ordnung?
Du sagst nichts. Du hältst deine Schwester im Arm und lässt sie weinen, denn jeder Versuch, sie zu beschwichtigen, wäre zwecklos, du musst warten, bis der Aufruhr sich von selbst gelegt hat. Wie lange dauert das? Du hast nicht die leiseste Ahnung, aber irgendwann ist es so weit, und du bemerkst, dass ihre Tränen versiegt sind. Mit der linken Hand, der freien Hand, die nicht um ihre Schultern liegt, ergreifst du ihr Kinn und drehst ihr Gesicht zu dir herum. Ihre Augen sind rot und geschwollen. Die Wangen mit Rinnsalen von Mascara überzogen. Schleim tropft aus ihrer Nase. Du nimmst deine Linke zurück, schiebst sie in deine hintere Hosentasche und ziehst ein Taschentuch hervor. Behutsam beginnst du ihr Gesicht abzutupfen. Du wischst die Tränen weg, den Rotz und das schwarze Mascara, und deine Schwester lässt diese ganze langwierige Prozedur regungslos über sich ergehen. Sie sieht dich aufmerksam an: Die Augen rein gewaschen von jeglicher erkennbaren Gemütsbewegung, sitzt sie vollkommen still, während du die Schäden ausbesserst, die der Sturm hinterlassen hat. Als du fertig bist, stehst du auf und sagst: Zeit für einen Drink, Miss Walker. Ich hole jetzt den Scotch.
Du marschierst in die Küche. Als du eine Minute später mit einer Flasche Cutty Sark, zwei Gläsern und einem Krug mit Eiswürfeln ins Wohnzimmer zurückkommst, sitzt sie noch genauso da, wie du sie verlassen hattest - den Kopf an die Rückenlehne des Sofas gelegt, die Augen geschlossen, regelmäßig atmend, geläutert. Du stellst die Trinkutensilien auf einer der drei Holzkisten ab, die nebeneinander vor dem Sofa aufgereiht stehen, ausgediente Milchkisten, die du zusammen mit deinem ehemaligen Mitbewohner eines Tages von der Straße aufgelesen hast und die euch jetzt als provisorischer Couchtisch dienen. Gwyn macht die Augen auf und lächelt matt und erschöpft, als bitte sie dich um Verzeihung für ihren Ausbruch, aber es gibt nichts zu verzeihen, nichts zu bereden, nichts, was du ihr verübeln könntest, und während du die Drinks einschenkst und die Eiswürfel in die Gläser tust, bist du selbst erleichtert, dass die Sache mit Andy vorbei ist, erleichtert, dass es keine Geburtstagsfeiern mehr für deinen abwesenden Bruder geben wird, erleichtert, dass ihr beide, du und deine Schwester, diese kindische Angelegenheit endlich hinter euch gebracht habt.
Du reichst Gwyn ihr Glas und setzt dich wieder neben sie aufs Sofa. Minutenlang sagt ihr beide kein Wort. Ihr trinkt euren Scotch und starrt die Wand vor euch an; beide wisst ihr, was heute Nacht geschehen wird, ihr spürt es als Gewissheit in eurem Blut, wisst aber auch, dass ihr Geduld haben und dem Alkohol Zeit geben müsst, seine Wirkung zu entfalten. Als du dich vorbeugst, um die zweite Runde einzuschenken, beginnt Gwyn von ihrer gescheiterten Liaison mit Timothy Krale zu erzählen, dem dreißig Jahre alten Juniorprofessor, der vor gut achtzehn Monaten in ihrem Leben aufgetaucht und im vergangenen April wieder daraus verschwunden ist, ungefähr zu der Zeit, als du Born zum ersten Mal die Hand gegeben hast. Dozent ausgerechnet für moderne Dichtung, setzte der Mann seinen Job aufs Spiel, als er seiner Studentin den Hof machte, und sie war sehr von ihm angetan, vor allem in der Anfangsphase der ersten ungestümen Monate, als sie sich noch heimlich trafen und die Wochenenden in abgelegenen Hotels in noch abgelegeneren Kleinstädten überall im Staat New York verbrachten. Du selbst hast ihn ein paarmal getroffen und durchaus verstanden, was Gwyn in ihm sah; Krale war in der Tat ein attraktiver und intelligenter Bursche, aber er hatte für dich auch etwas Vertrocknetes, etwas Distanziertes, das es dir schwermachte, dich für ihn zu erwärmen. Es wunderte dich nicht, als Gwyn seinen Heiratsantrag ablehnte und die Affäre beendete. Sie sagte ihm, sie fühle sich noch zu jung, sie sei noch nicht bereit, sich langfristig zu binden, aber das sei nicht der wahre Grund gewesen, erklärt sie dir jetzt, sie habe ihn verlassen, weil er als Liebhaber einfach nicht gut genug gewesen sei. Ja, ja, sagt sie, sie wisse, er habe sie geliebt, er habe sie so sehr geliebt, wie er überhaupt jemanden lieben konnte,
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