Unsichtbar
zunehmender Panik. Du willst nicht weg. Du willst den Flug streichen und in New York bei deiner Schwester bleiben, gleichzeitig aber ist dir klar, dass das nicht in Frage kommt, dass der Monat, den du mit ihr in unheiliger Ehe gelebt hast, überhaupt nur möglich war, weil es nur ein Monat sein sollte, weil eure inzestuöse Raserei von vornherein zeitlich begrenzt war, und da du es nicht erträgst, der Tatsache, dass es jetzt vorüber ist, ins Auge zu blicken, fühlst du dich zerrissen und beraubt und wie betäubt von Trauer.
Was alles noch schlimmer macht: Ihr müsst deinen letzten Tag in New York mit euren Eltern verbringen. Bud und Marge kommen mit ihrem dicken Auto in die Stadt, um dich und deine Schwester zu einem Abschiedsessen in einem teuren Restaurant in Midtown einzuladen - und danach wollen sie dich zum Flughafen fahren, um dir mit letzten Küssen und letzten Umarmungen Lebwohl zu sagen. Deine nervöse, mit Medikamenten vollgestopfte Mutter spricht während der Mahlzeit nur wenig, aber dein Vater ist ungewöhnlich gut gelaunt an diesem Tag. Er redet dich ständig mit mein Sohn an, nicht mit deinem Namen, und auch wenn du weißt, dass dein Vater es nicht böse meint, ärgert dich dieser verbale Tic, denn er scheint dich deiner Persönlichkeit zu berauben und dich in einen Gegenstand, ein Ding zu verwandeln. Nicht Adam, sondern Sohn, als ob er sagt: Mein Sohn, meine Schöpfung, mein Erbe. Bud sagt, er beneide dich um das Abenteuer, das dich in Paris erwarte, für ihn ist Paris die Hauptstadt der leichten Mädchen und der leichtfertigen Nächte (haha, zwinker zwinker), und obwohl er selbst nie eine solche Gelegenheit hatte, es sich nicht einmal leisten konnte, aufs College zu gehen, und schon gar nicht, ein ganzes Jahr lang im Ausland zu studieren, erfüllt ihn offensichtlich Stolz darüber, es in Gelddingen so weit gebracht zu haben, dass er seinem Sprössling diese Europareise finanzieren kann, Symbol des guten Lebens, des reichen Lebens, Sinnbild des Erfolgs bei den Angehörigen der amerikanischen Mittelschicht, von denen er in Westfield, New Jersey, ein leuchtendes Beispiel ist. Du windest dich, versuchst krampfhaft, nicht die Geduld zu verlieren, sehnst dich danach, mit Gwyn allein zu sein. Wie gewöhnlich ist deine Schwester ruhig und gelassen, natürlich spürt sie die unterschwelligen Spannungen, tut aber hartnäckig so, als bekäme sie nichts davon mit. Auf dem Weg zum Flughafen sitzt ihr zusammen hinten im Auto. Sie nimmt deine Hand und drückt sie fest, lässt sie während der ganzen fünfundvierzigminütigen Fahrt nicht los, aber das ist der einzige Hinweise darauf, was sie an diesem schrecklichen Tag empfindet, an diesem Tag aller Tage, und irgendwie ist dir das nicht genug, diese Hand, die deine drückt, ist dir nicht genug, und von diesem Tag an weißt du, dass niemals dir wieder etwas genug sein wird.
In der Abflughalle nimmt deine Mutter dich in die Arme und beginnt zu weinen. Sie könne die Vorstellung, dich ein Jahr lang nicht zu sehen, nicht ertragen, sagt sie, du werdest ihr fehlen, sie werde sich Tag und Nacht Sorgen um dich machen; und bitte, denk daran, dass du genug isst, schreib uns Briefe, ruf an, wenn du Heimweh hast, ich werde immer für dich da sein. Du drückst sie fest und denkst: Meine arme Mutter, meine arme unglückliche Mutter, und versicherst ihr, alles werde gut, aber du bist dir dessen ganz und gar nicht sicher, und deinen Worten mangelt es an Überzeugung, du hörst selbst, wie deine Stimme bebt. Über die Schulter deiner Mutter siehst du deinen Vater, der dich mit diesem distanzierten, verschlossenen Blick beobachtet, und du weißt, du bist ein vollkommen Fremder für ihn, du bist deinem Vater immer ein Rätsel gewesen, ein Mensch jenseits seiner Fassungskraft, doch jetzt, dieses eine Mal in deinem Leben, stimmst du mit ihm überein, denn tatsächlich bist auch du dir ein Rätsel und, ja, ein vollkommen Fremder.
Ein letzter Blick auf Gwyn. Deine Schwester hat Tränen in den Augen, aber du kannst nicht sagen, ob sie dir oder deiner Mutter gelten, ob sie heimliche Seelenqual ausdrücken oder Mitleid mit der überreizten Mutter, die in den Armen ihres Sohnes weint. Jetzt, da es zu Ende ist, möchtest du, dass Gwyn ebenso leidet wie du. Schmerz ist das Einzige, was euch jetzt zusammenhält, und wenn ihr Schmerz nicht so groß wie deiner ist, wird von dem kleinen, vollkommenen Universum, das ihr in diesem Monat bewohnt habt, nichts übrig bleiben. Du kannst unmöglich
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