Unsichtbar
und Knie, ihre Handgelenke und Knöchel, ihre Handrücken und ihre langen schmalen Finger bewunderst (nie könntest du dich zu einer Frau mit kurzen Daumen hingezogen fühlen, sagst du ihr eines Tages - eine absurde, aber vollkommen aufrichtige Behauptung) -, und wie sehr es dich verblüfft und gleichzeitig bezaubert, dass ein so zierlicher Körper wie der ihre so kräftig sein kann: Sie sei Schwan und Tiger zugleich, ein mythologisches Wesen. Sie wiederum ist fasziniert von den Haaren, die auf deiner Brust gewachsen sind (ein neues Phänomen der letzten zwölf Monate), und hat ein nie nachlassendes Interesse an der Wandlungsfähigkeit deines Penis: vom schlaffen, baumelnden Glied, wie es in Biologielehrbüchern abgebildet ist, über den voll ausgefahrenen phallischen Titan auf dem Höhepunkt der Erregung bis zum verschrumpelten kleinen Mann beim postkoitalen Rückzug. Sie nennt deinen Schwanz eine Varietevorstellung. Sie sagt, er sei eine multiple Persönlichkeit. Sie erklärt, sie wolle ihn adoptieren.
Jetzt, da du so intim mit ihr zusammenlebst, entpuppt sich Gwyn als ein etwas anderes Wesen als das, das du dein Leben lang gekannt hast. Sie ist sowohl komischer als auch lüsterner, als du dir vorgestellt hattest, vulgärer und eigenwilliger, leidenschaftlicher und verspielter, und verblüfft nimmst du zur Kenntnis, wie gern sie schmutzige Ausdrücke und den bizarren Slang des Sex benutzt. Gwyn hat selten in deiner Gegenwart geflucht. Sie ist ein gebildetes, wohlerzogenes Mädchen und spricht in vollständigen, grammatikalisch richtigen Sätzen, doch abgesehen von der Nacht des großen Experiments vor langer Zeit hast du nichts von ihrer Sexualität mitbekommen und konntest daher nicht ahnen, dass sie zu einer Frau heranwachsen würde, die über Sex genauso gern redet, wie sie ihn hat. Die alltäglichen Wörter des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren sie nicht. Zum Beispiel meidet sie den Ausdruck Liebe machen und nimmt stattdessen ältere oder völlig abstruse wie Rumpelpumpel, Kneipen oder Duobums. Ein guter Orgasmus heißt bei ihr Knochenschüttler. Ihr Hintern heißt Popofax. Ihre Scheide Schlitz, Spalt, Löchlein. Ihre Brüste nennt sie Möpse oder Titten, Möpschen oder Tittchen, ihre Zwillinge. Deinen Penis tauft sie Rute, Klinge, Lutscher, Schaft, Bohrer, Stöpsel, Stopfer, Lanzelot, Blitzstrahl, Charles Dickens, Dick Driver und Adam Junior. Die Worte erregen und amüsieren sie, und als du dich von deinem anfänglichen Schrecken erholt hast, erregen und amüsieren sie dich auch. In der Gewalt des nahenden Orgasmus jedoch greift sie gern auf die zeitgenössischen Vokabeln zurück und ergeht sich, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verliehen, in extrem grober Redeweise. Fotze, Möse, ficken. Fick mich, Adam. Immer und immer wieder. Fick mich, Adam. Einen ganzen Monat lang bist du der Gefangene dieses einen Worts, der willige Leibeigene dieses Worts, die Verkörperung dieses Worts. Du wohnst im Land des Fleisches, und dein Becher fließt über. Fürwahr, Güte und Huld werden dir folgen alle Tage deines Lebens.
Dennoch, du und deine Schwester redet nie über das, was ihr tut. Ihr führt nicht einmal ein Gespräch darüber, warum ihr darüber nicht redet. Ihr lebt im Kerker eines gemeinsamen Geheimnisses, und die Mauern dieses Raums sind aus Schweigen gebaut, einem wahnsinnigen Schweigen, das nur auf die Gefahr hin gebrochen werden kann, dass die Mauern über euren Köpfen zusammenstürzen. Also sitzt ihr im lauwarmen Bad, schäumt euch gegenseitig mit Seife ein, liebt euch vor dem Abendessen auf dem Fußboden, liebt euch nach dem Abendessen in Gwyns Bett, und frühmorgens scheucht euch der Wecker ins Bewusstsein zurück. An den Wochenenden macht ihr weite Streifzüge durch den Central Park, widersteht aber der Versuchung, in der Öffentlichkeit Händchen zu halten und euch zu küssen. Ihr geht ins Kino. Ihr geht ins Theater. Das Gedicht, das du im Juni begonnen hast, ist seit dem Abend von Andys Geburtstag nicht eine einzige Zeile vorangekommen, aber das ist dir gleichgültig, du hast jetzt anderes, was deine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, und die Zeit eilt dahin, die Tage bis zu deiner Abreise werden weniger und weniger, und du möchtest jeden Augenblick, der dir möglich ist, mit ihr zusammen sein und den Irrsinn, auf den ihr beide euch eingelassen habt, bis zur allerletzten Sekunde auskosten.
Der letzte Tag kommt. Seit zweiundsiebzig Stunden lebst du in einem Zustand unaufhörlichen Aufruhrs und
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