Unsichtbar
Abreise nach Paris habt ihr jeden einzelnen Tag Sex miteinander. Deine Schwester nimmt die Pille, sie hat Spermizide Cremes und Salben in ihrer Schublade, ihr könnt Kondome benutzen, ihr beide wisst, dass ihr geschützt seid, dass das Unaussprechliche nie geschehen wird und ihr daher absolut alles miteinander machen könnt, ohne fürchten zu müssen, euer Leben zu zerstören. Ihr sprecht nicht darüber. Abgesehen von dem kurzen Wortwechsel am Abend des Geburtstags eures Bruders (Hast du Angst? Nein, ich habe keine Angst) sagt ihr kein einziges Wort zu dem, was geschieht, weigert euch, die Auswirkungen dieser einen Monat währenden Affäre auszuloten - dieser einen Monat währenden Ehe, denn nichts anderes ist das schließlich: Ihr seid jetzt ein junges Ehepaar, zwei Frischverheiratete in der Agonie unaufhörlicher, überwältigender Lust - Sexbesessene, Liebende, beste Freunde: die beiden letzten Menschen des Universums.
Nach außen hin geht euer Leben weiter wie zuvor. An fünf Tagen die Woche holt euch der Wecker frühmorgens aus dem Schlaf, und nach einem minimalen Frühstück, Orangensaft, Kaffee und Toast mit Butter, stürzt ihr beide aus der Wohnung und eilt zu euren Jobs, Gwyn zu ihrem Büro im elften Stock eines Glasturms im Herzen Manhattans und du zu deinem tristen Angestelltenposten im Palast der Leere. Dir wäre es lieber, sie jederzeit in Sichtweite zu haben, und am liebsten wäre es dir, wenn sie nicht eine Minute von dir getrennt wäre, aber wenn diese unvermeidlichen Trennungen dir ein gewisses Maß an Schmerz bereiten, so steigern sie auch dein Verlangen nach ihr, und das ist, findest du, vielleicht gar nicht so schlecht, denn so verbringst du deine Tage in der Knechtschaft atemloser Erwartung, erregt und wachsam zählst du die Stunden, bis du sie wieder sehen und in den Armen halten kannst. Intensiv. Das ist das Wort, mit dem du dich jetzt beschreibst. Du bist intensiv. Deine Gefühle sind intensiv. Dein Leben ist zunehmend intensiv geworden.
Bei der Arbeit sitzt du nicht mehr hinter deinem Tisch und träumst von Ingrid Bergman und Hedy Lamarr. Ab und zu droht noch immer eine Erektion aus deiner Hose zu platzen, aber du brauchst dich nicht mehr darum zu kümmern, du rennst nicht mehr zur Toilette am Ende des Korridors. Du bist schließlich in der Bibliothek, und Gedanken an nackte Frauen gehören unauflöslich zur Arbeit in einer Bibliothek dazu, aber der einzige nackte Körper, an den du jetzt denkst, ist der deiner Schwester, der reale Körper der realen Frau, mit der du deine Nächte teilst, und nicht irgendein Phantasiegebilde, das nur in deinem Gehirn existiert. Keine Frage, Gwyn ist genau so schön wie Hedy Lamarr, vielleicht sogar schöner - zweifellos schöner. Das ist eine objektive Tatsache, du hast es in den vergangenen sieben Jahren immer wieder selbst erlebt, dass Männer wie gebannt stehenblieben und ihr nachstarrten, wenn sie auf der Straße an ihnen vorüberging, hast es gesehen, wie viele Köpfe sich nach ihr umdrehten, wie viele verstohlene Blicke in der Subway, im Restaurant, im Theater ihr zugeworfen wurden - Hunderte und Aberhunderte von Männern, und jeder einzelne von ihnen mit demselben anzüglichen, verschleierten, entgeisterten Ausdruck in den Augen. Ja, dieses Gesicht hat tausend Hoffnungen geweckt, dieses Gesicht hat tausend schmutzige Träume erzeugt, und während du an deinem Tisch darauf wartest, dass die nächste Rohrpost aus dem ersten Stock hochgerattert kommt, siehst du dieses Gesicht in deinem Kopf, schaust du in Gwyns große, lebendige, graugrüne Augen, und während diese Augen dir in die deinen sehen, beobachtest du, wie sie ihr weißes Sommerkleid im Nacken aufhakt und an ihrem großen schlanken Leib hinabgleiten lässt.
Ihr sitzt zusammen in der Wanne. Das ist jetzt euer neues Feierabendritual, und statt, wie bis zum Tag der Geburtstagsparty eures Bruders, vor dem Essen eine Stunde in der Küche zu entspannen, bechert ihr euer Bier und schmaucht eure Zigarette in einer Wanne lauwarmen Wassers. Das gewährt euch nicht nur ein wenig Erholung von der drückenden Hitze der Hundstage, sondern gibt euch auch eine weitere Chance, eure nackten Körper zu betrachten, an denen ihr euch offenbar nicht sattsehen könnt. Immer wieder sagst du deiner Schwester, wie gern du sie anschaust, wie sehr du jeden Zentimeter ihrer strahlenden, leuchtenden Haut liebst, wie sehr du, abgesehen von den eindeutig weiblichen Stellen, die alle Männer im Sinn haben, auch ihre Ellbogen
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