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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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genauso wichtig sind wie die Körper, die wir in den Armen halten. Margot erklärt ihm, Sex sei für sie das einzig Wichtige im Leben, wenn sie keinen Sex haben könne, würde sie sich wahrscheinlich umbringen, nur um der Langeweile und Monotonie der Gefangenschaft in ihrer eigenen Haut zu entgehen. Walker sagt dazu nichts, doch als er zum zweiten Mal in ihr kommt, wird ihm klar, dass er ihre Meinung teilt. Er ist verrückt nach Sex. Selbst im Griff der fürchterlichsten Verzweiflung ist er verrückt nach Sex. Sex ist der Herr und Heiland, die einzige Erlösung auf Erden.
    Das Restaurant lassen sie ausfallen. Nachdem sie den Wein ausgetrunken haben, schlafen sie ein und vergessen die Abendmahlzeit. Am nächsten Morgen, kurz vor Beginn der Dämmerung, schlägt Walker die Augen auf und stellt fest, dass er allein im Bett liegt. Auf dem Kopfkissen neben ihm liegt ein Zettel, eine Nachricht von Margot: Entschuldige. Das Bett war mir unbequem. Ruf nächste Woche an.
    Er fragt sich, ob er den Mut haben wird, sie anzurufen. Dann, etwas präziser, fragt er sich, ob er den Mut haben wird, sie nicht anzurufen, ob er der Versuchung widerstehen kann, sie wiederzusehen.

    Zwei Tage später sitzt er in einem Straßencafe an der Place Saint-Andre des Arts, trinkt in aller Ruhe ein Bier und schreibt in ein kleines Notizbuch. Es ist sechs Uhr abends, das Ende eines weiteren Arbeitstags, und nachdem er sich nun ein wenig an den Rhythmus von Paris gewöhnt hat, begreift er, dass dies wahrscheinlich die belebendste Stunde dieser Stadt ist, der Übergang von der Arbeit ins Private, die Straßen voller Männer und Frauen, die zu ihren Familien, ihren Freunden, ihren einsamen Wohnungen eilen, und er genießt es, draußen unter ihnen zu sein, umschwebt von dem ungeheuren kollektiven Aufatmen, das die ganze Luft erfüllt. Er hat soeben einen kurzen Brief an seine Eltern und einen längeren Brief an Gwyn geschrieben, und jetzt versucht er etwas Stichhaltiges über das Werk von George Oppen zu schreiben, einen zeitgenössischen amerikanischen Dichter, den er sehr bewundert. Er exzerpiert folgende Zeilen aus Oppens jüngstem Buch, This In Which:

    Unmöglich, die Welt zu bezweifeln: man kann sie sehen,
    Und da sie unwiderruflich ist,
    Kann sie nicht verstanden werden,
    und ich glaube, diese Tatsache ist tödlich.
    Er will sich zu dieser Stelle etwas notieren, doch ehe er den Stift ansetzen kann, fällt ein Schatten auf das Notizbuch. Er blickt auf, und vor ihm steht Rudolf Born. Bevor Walker irgendetwas sagen oder tun kann, hat der künftige Mann von Helene Juin auf dem freien Stuhl neben ihm Platz genommen. Walkers Herz beginnt zu rasen. Es hat ihm den Atem und die Sprache verschlagen. So war das nicht geplant, sagt er sich. Für den Fall, dass ihre Wege sich kreuzten, hätte er Born erspähen sollen, nicht umgekehrt. Er hätte sich auf einer bevölkerten Straße bewegt und wäre in der Lage gewesen, den Blick abzuwenden und unbemerkt zu entkommen. So hatte er sich das immer ausgemalt, und jetzt sitzt er hier wehrlos im Freien auf seinem erbärmlichen Hintern in der Falle und kann gewiss nicht so tun, als sei Born gar nicht da.
    Anstelle des weißen Anzugs trägt er ein cremefarbenes Jackett, um seinen Hals hängt ein Seidentuch, ein blaugrün gemustertes Ding, das zweifellos dazu dienen soll, das Hellblau seines Hemdes hervorzuheben - immer noch der zerknitterte Dandy, denkt Walker, immer noch dasselbe süffisante Lächeln.
    Na so was, sagt Born mit falscher Munterkeit und einer Betonung, als wolle er das Falsche noch unterstreichen. So sieht man sich wieder, Walker. Was für eine angenehme Überraschung.
    Walker weiß, dass er mit ihm wird reden müssen, aber fürs Erste bekommt er kein Wort über die Lippen.
    Ich hatte gehofft, Ihnen über den Weg zu laufen, fährt Born fort. Paris ist so eine kleine Stadt, da musste das früher oder später passieren.
    Wer hat Ihnen erzählt, dass ich hier bin?, fragt Walker schließlich. Margot?
    Margot? Ich habe seit Monaten nicht mehr mit Margot gesprochen. Ich wusste nicht einmal, dass sie in der Stadt ist.
    Wer also dann?
    Sie vergessen, dass ich an der Columbia gelehrt habe. Ich habe Beziehungen dorthin, und der Leiter Ihres Studiengangs ist zufällig ein Freund von mir. Neulich war ich mit ihm essen, und da hat er es mir erzählt. Er sagte, Sie wohnen in einer Absteige in der rue Mazarine. Warum haben Sie kein Zimmer in Reid Hall genommen? Die sind zwar nicht besonders groß, aber immerhin wimmelt

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