Unsichtbar
Sie die Wahrheit sagen.
Soll ich das als aufrichtige Bitte um Entschuldigung auffassen - oder möchten Sie bloß, dass ich Ihnen wieder einen Gefallen tue? Sie erwägen nicht vielleicht zufällig, Ihre tote Zeitschrift wiederzubeleben, zum Beispiel?
Selbstverständlich nicht. Das ist alles Vergangenheit.
Das hat mir sehr wehgetan, Walker. Den Scheck in kleine Stücke zu reißen und mir kommentarlos zurückzuschicken. Das hat mich tief gekränkt.
Wenn ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt habe, tut es mir aufrichtig leid. Nach dem, was damals geschehen ist, war ich mehr oder weniger in einem Schockzustand. Ich wusste nicht, was ich tat.
Und jetzt wissen Sie, was Sie tun?
Ich denke schon.
Sie denken schon. Dann sagen Sie mir, junger Mann, was genau wollen Sie?
Nichts. Ich rufe an, weil Sie mich gebeten haben, Sie anzurufen. Falls ich es mir anders überlegt habe.
Sie möchten also Frieden schließen. Geht es darum? Sie sagen mir, Sie möchten unsere Freundschaft erneuern.
Richtig. Sie erwähnten, dass Sie mir Ihre Verlobte und deren Tochter vorstellen wollten. Ich finde, das könnte ein netter Anfang sein.
Nett. Was für ein abgeschmacktes Wort. Ihr Amerikaner habt wirklich Talent für Banalitäten, habe ich recht?
Zweifellos. Wir sind auch gut darin, uns zu entschuldigen, wenn wir merken, dass wir unrecht haben. Wenn Sie mich nicht sehen wollen, sagen Sie es einfach. Ich kann das verstehen.
Verzeihen Sie, Walker. Ich war mal wieder böse. Das geht bei mir ganz automatisch, leider. Wir haben alle unsere Launen.
In der Tat.
Und jetzt möchten Sie also mit Helene und Cecile dinieren. Wozu ich Sie gestern eingeladen habe. Abgemacht. Ich hinterlasse Nachricht in Ihrem Hotel, sobald ich die Vorkehrungen getroffen habe.
Das Essen wird für den folgenden Abend im Vagenende verabredet, einer Brasserie aus der Zeit der Jahrhundertwende am Boulevard Saint-Germain. Walker trifft pünktlich um acht als erster Teilnehmer der Party ein, und als er zu Monsieur Borns Tisch geführt wird, ist er so nervös und abgelenkt, dass er von seiner Umgebung nicht viel mitbekommt: die dunklen, mit Eiche getäfelten Wände, das glänzende Messing, die steifen weißen Tischtücher und Servietten, das Klappern von Silberbesteck an Porzellan. Vierunddreißig Stunden nach dem wahnsinnigen, unterwürfigen Gespräch mit Born haben seine Lügen ihm nun das hier eingebracht: unendliche Angst, abgrundtiefe Selbstverachtung und die unschätzbare Gelegenheit, Borns künftige Frau und seine Stieftochter kennenzulernen. Alles hängt davon ab, wie die Sache mit Helene und Cecile sich entwickelt. Wenn es ihm gelingt, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, zu einer von ihnen, ein Verhältnis, das in keinem Zusammenhang mit Born steht, wird es ihm früher oder später möglich sein, die Wahrheit über den Vorfall am Riverside Drive zu enthüllen, und wenn er sie dazu bringen kann, seine Geschichte über den Mord an Cedric Williams zu glauben, besteht die Chance, die durchaus realistische Chance, dass die Hochzeit abgesagt und Born von seiner Braut in spe verlassen wird. Mehr hat Walker sich nicht vorgenommen: Er will die Ehe scheitern lassen, bevor sie rechtskräftig geschlossen ist. Keine sehr harte Strafe für einen Mord, mag sein, jedoch in Anbetracht der vorhandenen Möglichkeiten hart genug. Born zurückgewiesen. Born gedemütigt. Born ein Häufchen Elend. So sehr es Walker anwidert, diesem Mann mit geheuchelten Entschuldigungen und unaufrichtigen Freundschaftsbekundungen um den Bart zu gehen, sieht er doch ein, dass ihm nichts anderes übrigbleibt. Sollten sich Helene und Cecile als unzugänglich erweisen, wird er den Versuch aufgeben und stillschweigend seine Niederlage eingestehen. Aber nur dann, nur in diesem Fall, und bis es dahin kommt, ist er entschlossen, mit dem Teufel Karten zu spielen.
Seine ersten Beobachtungen geben nicht viel her. Ob es an ihrem Naturell oder an den Umständen liegt, jedenfalls machen Mutter und Tochter einen bescheidenen und zurückhaltenden Eindruck, weder besonders aufgeschlossen noch zu munterem Geplauder aufgelegt, und da zunächst einmal Born das Geschehen dominiert, die Vorstellungen übernimmt, Erklärungen abgibt und diverse andere Bemerkungen macht, kommen die beiden kaum zu Wort. Als Walker kurz von seinen ersten Tagen in Paris erzählt, fragt Cecile höflich nach, ob es ihm gefällt, im Hotel zu wohnen. Die Mutter ist groß, blond, gut gekleidet, keineswegs eine Schönheit (ihr Gesicht ist zu lang,
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