Unsichtbar
erkennt, dass es ihm ernst ist, taut sie auf und erzählt von Artikulationsstörungen bei Kindern, von den Methoden, mit denen sie die lispelnden, stammelnden, stotternden jungen Menschen behandelt, die zu ihr in die Klinik kommen. Aber nein, sie arbeitet nicht nur mit Kindern, sondern auch mit Erwachsenen, mit alten Leuten, mit Opfern von Schlaganfällen und diversen Hirnverletzungen, mit Aphasikern, also denen, die nicht mehr sprechen können oder Wörter vergessen haben oder Wörter so sehr durcheinanderbringen, dass bei ihnen Bleistift zu Papier und Baum zu Haus wird. Es gibt unterschiedliche Formen von Aphasie, erfährt Walker, je nachdem, welche Gehirnregion betroffen ist - Broca-Aphasie, Wernicke-Aphasie, Leitungsaphasie, transkortikalsensorische Aphasie, anomische Aphasie und so weiter -, und ist es nicht faszinierend, sagt Helene und zeigt zum ersten Mal, seit sie das Restaurant betreten hat, ein Lächeln, endlich ein aufrichtiges Lächeln, ist es nicht faszinierend, dass Gedanken ohne Sprache existieren können, und da Sprache eine Funktion des Gehirns ist, müssen wir doch wohl sagen, dass Sprache - die Fähigkeit, die Welt durch Symbole zu erfahren - in gewisser Hinsicht eine physische Eigenschaft des Menschen ist, womit bewiesen wäre, dass die alte Geist-Körper-Dualität der reine Unsinn ist, oder? Adieu, Descartes. Geist und Körper sind eins.
Er stellt fest, am besten kann er die beiden kennenlernen, wenn er sich selbst aus dem Spiel lässt, wenn er Fragen stellt, statt Antworten zu geben, wenn er sie dazu bringt, von sich zu erzählen. Aber in solchen zwischenmenschlichen Manipulationen ist Walker nicht sehr geschickt, und als Born sich plötzlich mit demonstrativ abfälligen Bemerkungen über die Weigerung der israelischen Armee, sich vom Sinai und der West Bank zurückzuziehen, in ihr Gespräch mischt, verfällt er in unbehagliches Schweigen. Walker spürt, er versucht ihn zu einem Streit zu provozieren, dabei teilt er Borns Ansichten zu diesem Thema, aber statt ihn das wissen zu lassen, schweigt er, wartet stumm das Ende der Predigt ab und beobachtet unterdessen Cecile, die, offenbar im Innersten belustigt, ihre Mundwinkel wieder einmal nach unten zieht.
Er könnte sich täuschen, doch ihm scheint, dass sie die Heftigkeit von Borns Äußerungen ziemlich komisch findet. Als ein paar Minuten später die Vorspeisen serviert werden, bricht Born seine Tirade ab. Walker nutzt die plötzliche Stille und fragt Cecile, wo sie Altgriechisch gelernt habe. An seiner Highschool sei Griechisch nicht angeboten worden, sagt er, und er beneide sie, dass sie die Möglichkeit gehabt habe, diese Sprache zu lernen. Ihm blieben nur noch zwei Jahre am College, und inzwischen sei es wahrscheinlich zu spät, noch damit anzufangen.
Finde ich nicht, sagt sie. Wenn man erst mal das Alphabet kann, ist es nicht so schwierig, wie es aussieht.
Sie reden eine Weile über griechische Literatur, und sie erzählt ihm, was sie sich für den Sommer vorgenommen hatte - ein verrücktes, übertrieben ehrgeiziges Projekt, das ihr drei Monate lang nichts als Frustration und Zerknirschung eingebracht hat. Weiß Gott, welcher Teufel sie geritten habe, das überhaupt zu versuchen, sagt sie, aber sie habe es sich in den Kopf gesetzt, das buchlange Gedicht eines der schwierigsten antiken Autoren ins Französische zu übersetzen. Als Walker sich nach dem Namen des Autors erkundigt, zuckt sie die Schultern und sagt, den kenne er garantiert nicht, niemand kenne ihn, und tatsächlich, als sie den Namen des Dichters nennt, Lykophron, der um 300 vor Christus gelebt hat, muss Walker zugeben, dass sie recht hat. In dem Gedicht geht es um Kassandra, fährt sie fort, die Tochter des Priamos, des letzten Königs von Troja - die arme Kassandra, die das Pech hatte, von Apollon geliebt zu werden. Dieser bot ihr die Gabe der Weissagung an, aber nur, wenn sie ihm dafür ihre Jungfernschaft opferte. Zunächst sagte sie ja, dann sagte sie nein, und der enttäuschte Apollon rächte sich, indem er sein Geschenk vergiftete und dafür sorgte, dass keine von Kassandras Prophezeiungen jemals geglaubt würde. Lykophrons Gedicht spielt zur Zeit des Trojanischen Kriegs; Kassandra, schon wahnsinnig, soll zusammen mit Agamemnon ermordet werden; in Gefangenschaft stößt sie endlose wirre Orakel und Voraussagen in einer so komplexen, so mit Metaphern und Anspielungen vollgestopften Sprache hervor, dass fast nichts davon noch nachvollziehbar ist. Es ist ein Gedicht aus
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