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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Funken sprühen. Alles Mögliche mag in diesen Augen liegen - Wehmut, Freundlichkeit, Trauer -, aber Liebe ist nicht dabei, und noch weniger Glück oder auch nur eine Spur von Euphorie. Aber wie sollte eine Frau in Helenes Lage auch Glück empfinden können, eine Frau, die seit sechs oder sieben Jahren in einem Schwebezustand aus Angst und Kummer lebt, während ihr Mann halbtot im Krankenhaus dahinsiecht? Er versucht sich Juin vorzustellen, im Koma auf einem Bett, sein Körper an zahllose Apparate und Beatmungsschläuche angeschlossen, der einzige Patient in einer riesigen, sonst menschenleeren Abteilung, am Leben, ohne zu leben, im Sterben, ohne zu sterben, und plötzlich erinnert er sich an den Film, den er vor zwei Monaten mit Gwyn gesehen hat, Ordet, den Film von Carl Dreyer, neben seiner Schwester im New Yorker; er denkt an die tote Frau des Bauern in ihrem Sarg, an seine Tränen, als sie sich aufrichtete und wieder lebendig wurde; aber nein, sagt er sich, das war nur eine Geschichte, eine ausgedachte Geschichte in einer ausgedachten Welt, und das hier ist nicht diese Welt, und für Juin wird es keine wunderbare Auferstehung geben, Helenes Mann wird sich niemals aufrichten und wieder lebendig werden. Von Juins Bett im Krankenhaus springen Walkers Gedanken zu einem anderen Bett, und ehe er sich dessen erwehren kann, kommt ihm die abstoßende Szene in den Sinn, die Margot ihm vor ein paar Tagen geschildert hatte: Margot im Bett mit zwei Männern; Born und dieser andere, wie hieß er noch, Francois, Margot im Bett mit Born und Francois, alle drei nackt und ineinander verkeilt, und jetzt sieht er Born, der beobachtet, wie Francois seinen steifen Schwanz in Margot hineinschiebt, und dann sieht er Born, nackt in seinem groben, widerlichen Fleisch, wie er sich, bis zum Äußersten erregt, einen abwichst, als seine Freundin es vor seinen Augen mit einem anderen treibt...
    Um die Bilder zu verscheuchen, lächelt Walker Cecile zu, und als sie zurücklächelt - ein wenig verwirrt, aber offenkundig erfreut ob der Beachtung, die er ihr schenkt -, fragt er sich, ob diese Art von Ausschweifung nicht erklärt, warum Born so scharf darauf ist, Helene zu heiraten. Vielleicht geht es ihm darum, von sich selbst loszukommen, seinen schmutzigen, bösartigen Trieben Widerstand zu leisten, und sie ist für ihn die Verkörperung von Ehrbarkeit, ein Schutzwall gegen seinen Wahnsinn. Walker fällt auf, wie anständig er sich Helene gegenüber benimmt und dass er sie mit dem förmlichen vous statt mit dem vertraulicheren tu anredet. Das ist die Sprache von Grafen und Gräfinnen, die Sprache von Eheleuten in den höchsten Zirkeln der Oberschicht, eine Sprache, die zwischen einem selbst und der Welt eine Distanz herstellt, die wiederum eine Art Schutzfunktion hat. Born sucht nicht Liebe, sondern Sicherheit. Die triebhafte Margot hat seine schlimmste Seite nach außen gekehrt. Wird die stille und verklemmte Helene ihn zu einem neuen Menschen machen? Träum weiter, denkt Walker für sich. Ein so intelligentet Mann wie du sollte nicht so dumm sein, sich so etwas einzubilden.
    Als sie ihre Bestellungen aufgeben, weiß Walker bereits, dass Helene als Sprachpathologin in einer Klinik im vierzehnten Arrondissement arbeitet. Sie übt diesen Beruf seit den frühen fünfziger Jahren aus - mit anderen Worten, sie hat damit lange vor dem Unfall ihres Mannes angefangen -, und obwohl sie jetzt auf diesen Job angewiesen ist, um das Einkommen zu erzielen, das sie zur Erhaltung ihres kleinen Haushalts braucht, ist Walker rasch klar, dass sie eine engagierte Praktikerin ist, dass ihre Karriere ihr enorme Befriedigung verschafft und wahrscheinlich das Wichtigste überhaupt in ihrem Leben ist. Wer in einem Meer von Plagen zu ertrinken droht, findet in harter Arbeit vielleicht das Floß, das ihn vor dem Untergang bewahrt. Walker liest es in ihren Augen, er ist beeindruckt, wie merklich sie aufleuchten, als Born auf dieses Thema zu sprechen kommt, und plötzlich sieht er eine Möglichkeit, eine Chance, sie ins Gespräch zu ziehen. Tatsache ist, dass Walker sich aufrichtig interessiert für das, was sie tut. Er hat Jakobsons und Merleau-Pontys Bücher über Aphasie und Spracherwerb gelesen, hat sich, da Worte und Sprache sein Ein und Alles sind, ernsthaft mit diesen Dingen beschäftigt und kommt sich daher nicht wie ein Heuchler oder Schwindler vor, als er sie mit Fragen zu löchern beginnt. Anfangs reagiert Helene erstaunt auf seinen Enthusiasmus, doch als sie

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