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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Gesellschaft ist das Einzige, was ihn davon abhalten kann, ständig an Gwyn zu denken, sich ständig nach Gwyn zu sehnen. Nein, er ist nicht unglücklich darüber, dass sie ihn gestern Abend mit Born und den Juins im Restaurant entdeckt hat. Und er bedauert auch nicht, dass er ihr jetzt sein Herz ausgeschüttet hat. Ihre Reaktion hat bewiesen, dass er ihr etwas bedeutet, dass er für sie mehr ist als bloß irgendein Körper, mit dem sie ins Bett steigen kann, doch er weiß, er darf ihre Freundschaft nicht übermäßig beanspruchen, denn Margot ist nicht hundertprozentig für ihn da, sie kann ihm nicht alles geben. Verlangt er zu viel von ihr, könnte sie ihm das übelnehmen, vielleicht sogar ganz von ihm abrücken.
    Sie lassen die Croissants unangerührt auf dem Tisch zurück und treten ins nasskalte Grau der Straße hinaus, um irgendwo essen zu gehen. Schweigend ziehen sie los, Margot nimmt seine Hand, und zehn Minuten später sitzen sie sich an einem Ecktisch im Restaurant des Beaux-Arts gegenüber. Margot spendiert ihm ein üppiges Drei-Gänge-Menü (lässt nicht zu, dass er selbst bezahlt, besteht darauf, dass er Nachtisch und eine zweite Tasse Kaffee bestellt), und dann ziehen sie weiter zur rue de l'Universite. Die Wohnung der Jouffroys liegt im vierten Stock eines fünfstöckigen Gebäudes, und als sie sich in den engen Vogelkäfig von einem Aufzug gezwängt haben, nimmt Walker sie in die Arme und bedeckt ihr Gesicht mit einem Sperrfeuer von heftigen, kurzen Küssen. Margot lacht laut auf, und sie lacht immer noch, als sie einen Schlüssel aus ihrer Handtasche nimmt und die Wohnungstür aufschließt. Dahinter tun sich luxuriöse Räumlichkeiten auf, prunkvoller als alles, was Walker sich hätte vorstellen können, ein ungeheurer Palast der Behaglichkeit, der Reichtum in einem Ausmaß ausstrahlt, dem er noch nie begegnet ist. Margot hatte ihm einmal erzählt, ihr Vater arbeite im Bankwesen, jedoch nichts davon gesagt, dass er der Direktor der Bank sei, und als sie Walker nun durch die Zimmer mit ihren dicken Perserteppichen und goldgerahmten Spiegeln, mit ihren Kristallkronleuchtern und antiken Möbeln führt, glaubt er neue Erkenntnisse über die unzufriedene, schwer fassbare Margot zu gewinnen. Sie hadert mit der Umgebung, in die sie hineingeboren wurde, hadert damit, ohne offen dagegen aufzubegehren (lebt sie doch, wenn auch nur zeitweilig, wieder bei ihren Eltern, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hat), aber wie enttäuscht müssen sie sein, dass sie mit dreißig immer noch unverheiratet ist, und ebenso wenig können ihre halbherzigen Versuche, Malerin zu werden, in diesem Reich bourgeoiser Ehrbarkeit besonders gut ankommen. Die zweideutige Margot mit ihrer Lust am Kochen und ihrer Lust am Sex - noch immer kämpft sie um einen Platz für sich, noch immer ist sie nicht ganz frei.
    So jedenfalls sinniert Walker vor sich hin, als er ihr in die Küche folgt, doch gleich darauf muss er einsehen, dass das Porträt ein wenig komplexer ist, als er es sich zurechtgebastelt hat. Margot wohnt gar nicht bei ihren Eltern in der Wohnung. Sie hat ein Zimmer in der Etage darüber, ein winziges Dienstmädchenzimmer, das ihr Großvater ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte, und an diesem Nachmittag hat sie die Wohnung lediglich betreten, um eine Packung Zigaretten zu suchen (die sie jetzt in einer Schublade neben der Spüle findet). Der Rundgang war eine kleine Zugabe, fügt sie hinzu, um Walker einen Eindruck davon zu vermitteln, wie und wo sie aufgewachsen sei. Als er fragt, warum sie zum Übernachten eine spärliche chambre de bonne dem Komfort hier unten vorzieht, antwortet Margot lächelnd: Da musst du schon allein draufkommen.
    Das Zimmer ist spartanisch, nicht einmal ein Drittel so groß wie seines im Hotel. Platz für einen kleinen Schreibtisch, einen Stuhl, ein kleines Waschbecken und ein kleines Bett mit Schubfächern darunter. Unverfälscht in seiner Reinlichkeit, keinerlei Schnickschnack - als seien sie in die Klosterzelle einer Novizin getreten. Das einzige vorhandene Buch liegt auf dem Boden neben dem Bett: eine Gedichtsammlung von Paul Eluard, Capitale de la douleur. Auf dem Tisch ein paar Skizzenblöcke, ein Wasserglas mit Farbstiften und Kugelschreibern; an die Wand gelehnt ein paar Leinwände, mit dem Rücken nach außen. Walker würde sie zu gern umdrehen, würde zu gern die Skizzenblöcke aufklappen, doch Margot macht keine Anstalten, ihm diese Dinge zu zeigen, und ohne ihre Erlaubnis

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