Unsichtbar
wagt er nichts anzufassen. Er ist überwältigt von der Schlichtheit des Zimmers, von diesem unirdischen Einblick in Margots Innenwelt. Wie vielen Leuten mag sie gestattet haben, hier einzutreten?, fragt er sich.
Es würde ihm gefallen, wenn er der Erste wäre.
Sie verbringen zwei Stunden auf Margots schmalem Bett, und als Walker schließlich geht, ist es schon fast zu spät für sein Stelldichein mit Cecile Juin. Das ist allein seine Schuld, er hatte den Termin vollkommen vergessen. Sobald er Margot die ersten Küsse gab, schwand das für vier Uhr verabredete Treffen aus seinen Gedanken, und hätte nicht Margot selbst nach einem Blick auf den Wecker gefragt: Sollst du nicht in einer Viertelstunde irgendwo sein?, würde er immer noch neben ihr liegen - und nicht vom Bett springen und in seine Sachen fahren, um sich hastig aus dem Staub zu machen.
Diese Hilfestellung ist ihm ein Rätsel. Nur wenige Stunden zuvor war sie eisern gegen seinen Plan, und jetzt handelt sie wie eine Komplizin. Hat sie ihre Haltung überdacht, fragt er sich, oder ist das ein raffiniert angelegtes Scheinmanöver, mit dem sie herausfinden will, ob er wirklich so dumm ist, in die Falle zu tappen, die er sich ihrer Meinung nach selbst aufgebaut hat? Er neigt zu der letzteren Interpretation, dankt ihr aber trotzdem, dass sie ihn an die Verabredung erinnert hat, und als er schon die Tür aufreißt und das winzige Zimmer verlassen will, erklärt er ihr hastig, dass er sie liebe.
Nein, tust du nicht, sagt sie und schüttelt lächelnd den Kopf. Aber es freut mich, dass du so denkst. Du bist ein verrückter Bursche, Adam, und jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du noch verrückter als beim letzten Mal. Nicht mehr lange, und du bist so verrückt wie ich.
Er betritt das La Palette um fünf vor halb fünf, fast eine halbe Stunde zu spät. Es würde ihn nicht überraschen, wenn Cecile schon gegangen wäre, wenn sie wutschnaubend das Weite gesucht und sich geschworen hätte, ihn mit tausend Verwünschungen zu überschütten, falls er ihr noch jemals über den Weg laufen sollte. Aber nein, sie ist noch da, sitzt seelenruhig an einem Tisch im hinteren Raum und liest in einem Buch; vor ihr steht eine halb geleerte Flasche Orangina. Diesmal trägt sie eine Brille und einen bezaubernden kleinen blauen Hut, der wie eine Baskenmütze aussieht. Verlegen, außer Atem vom Laufen, die Kleider in Unordnung, sein Körper zweifellos in den Mief von Sex gehüllt, und noch immer das Wort verrückt im Kopf, nähert sich Walker dem Tisch und sprudelt schon von weitem Entschuldigungen hervor, aber Cecile blickt nur auf und lächelt - ein vollkommen unverdientes verzeihendes Lächeln.
Dennoch bittet Walker, auch als er schon ihr gegenüber Platz nimmt, noch einmal um Entschuldigung und tischt eine weithergeholte Ausrede auf - er habe für ein Ferngespräch nach New York über eine Stunde lang in der Post anstehen müssen - aber Cecile geht lässig darüber hinweg und sagt, er solle sich nicht aufregen, kein Problem, er brauche sich nicht zu rechtfertigen. Dann hebt sie die linke Hand, tippt mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr und sagt: Wir haben eine Regel in Paris. Wenn Leute miteinander verabredet sind, gibt der, der als Erster kommt, dem anderen eine halbe Stunde Zeit, noch aufzutauchen - Fragen werden nicht gestellt. Wir haben jetzt vier Uhr fünfundzwanzig. Nach meiner Berechnung sind Sie damit fünf Minuten zu früh.
Dann, sagt Walker, beeindruckt von dieser schwachsinnigen Logik, ist mein Gequassel also ganz überflüssig?
Das habe ich Ihnen gerade zu erklären versucht.
Walker bestellt einen Kaffee, seinen sechsten oder siebenten an diesem Tag, und dann zieht Cecile wieder einmal die Mundwinkel nach unten und zeigt auf das Buch, in dem sie gelesen hat, als er kam - ein schmales grünes Bändchen ohne Schutzumschlag, offenbar ziemlich alt, ein zerlesenes, zerfleddertes Ding, das aussieht, als habe sie es aus einem Mülleimer geborgen.
Ich hab's gefunden, sagt sie, und dann kann sie ihre Lippen nicht mehr beherrschen und lächelt ihn strahlend an. Lykophron auf Englisch. Erschienen in der Loeb Classical Library bei der Harvard University Press. Neunzehnhunderteinundzwanzig. Übersetzt von - sie schlägt die Titelseite auf - A. W. Mair, Professor für Griechisch an der Universität Edinburgh.
Das ging ja schnell, sagt Walker. Wie und wo haben Sie das nur aufgetrieben?
Tut mir leid. Das kann ich Ihnen nicht sagen.
Ach? Und warum nicht?
Das ist ein
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