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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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für einen unbekannten Fremden.
    Sehr gut. Und nachdem wir bezahlt und dieses Cafe verlassen haben, wird Lykophron nie mehr zwischen uns erwähnt werden.

    So beginnt Walkers Freundschaft mit Cecile Juin. In mancher Hinsicht findet er sie absolut unmöglich. Sie zappelt und zittert, sie kaut an ihren Fingernägeln, sie raucht nicht, sie trinkt nicht, sie ist militante Vegetarierin, sie stellt zu hohe Ansprüche an sich selbst (man denke an die vernichtete Übersetzung), und zuweilen ist sie erschreckend unreif (man denke an die alberne Weigerung, ihm zu sagen, wo sie das Buch gefunden hat, ihre mädchenhafte Fixierung auf Geheimnisse). Andererseits ist sie zweifellos einer der geistreichsten Menschen, die er jemals kennengelernt hat. Ihr Kopf ist ein erstaunliches Instrument, sie macht ihn schwindlig mit ihren Gedanken zu fast jedem beliebigen Thema, mit ihren Kenntnissen in Literatur und Kunst, Musik und Geschichte, Politik und Wissenschaft. Dabei ist sie keineswegs bloß eine Gedächtnismaschine, eine dieser prototypischen Spitzenstudentinnen, die über die Fähigkeit verfügen, unendliche Mengen ungefilterte Informationen in sich aufzunehmen. Sie ist sensibel und scharfsinnig, ihre Ansichten sind ausnahmslos eigenständig, und so schüchtern und nervös sie auch sein mag, verteidigt sie doch in jeder Debatte hartnäckig ihren Standpunkt. Sechs Tage hintereinander trifft Walker sich mit ihr zum Mittagessen in der Mensa in der rue Mazet. An den Nachmittagen streifen sie durch die Buchhandlungen, gehen ins Kino, besuchen Kunstgalerien, sitzen auf Bänken an der Seine. Zu seiner Erleichterung scheint sie sich körperlich nicht zu ihm hingezogen zu fühlen, sodass er seine Gedanken an Sex auf Margot (die in dieser Zeit eine Nacht bei ihm im Hotel verbringt) und die abwesende Gwyn beschränken kann, die nie weit weg von ihm ist. Mit einem Wort, trotz all ihrer schwer erträglichen Eigenarten genießt er die Kommunikation mit Ceciles Geist so sehr, dass er an ihren Körper nicht zu denken braucht und seine Finger bei sich behält.
    Behutsam zu Werke gehend, stellt er ihr keine direkten Fragen zu Born. Natürlich will er wissen, was sie von ihm denkt, will wissen, was sie von der bevorstehenden Hochzeit ihrer Mutter mit diesem alten Freund der Familie hält, aber er hat noch reichlich Zeit, die Scheidung wird erst im Frühjahr spruchreif sein, und er wartet lieber ab, bis ihre Freundschaft feste Wurzeln geschlagen hat, ehe er sie über so persönliche Dinge ausfragt. Dennoch sagt ihm auch ihr Schweigen etwas, denn wenn sie viel von Born hielte oder wenn sie von der Idee der Hochzeit begeistert wäre, würde sie doch wohl gelegentlich auf diese Dinge zu sprechen kommen. Aber Cecile sagt nichts, und daraus schließt er, dass sie Zweifel am Entschluss ihrer Mutter hegt. Vielleicht betrachtet sie das als Verrat an ihrem Vater, denkt er, aber das Thema ist ihm zu heikel, als dass er es mit ihr erörtern möchte, und solange Cecile nicht selbst davon anfängt, will er weiter so tun, als wisse er nichts von dem Mann im Krankenhaus, dem praktisch toten Vater, der niemals wieder aufwachen wird.
    Am fünften Tag ihrer täglichen Streifzüge erzählt ihm Cecile, ihre Mutter möchte wissen, ob er Zeit habe, sie am nächsten Abend, dem letzten Abend vor Beginn des neuen Schuljahrs am Lyzeum, zum Essen in ihrer Wohnung zu besuchen. Walker ist schon drauf und dran, die Einladung auszuschlagen, da er fürchtet, Born werde mit von der Partie sein, aber dann stellt sich heraus, dass Born in Familienangelegenheiten (Familienangelegenheiten?) nach London gereist ist und sie nur zu dritt sein werden, Helene, Cecile und er. Sicher, sagt er, zu einem Essen in so kleinem Kreis komme er gern. In großen Versammlungen fühle er sich unwohl, aber ein ruhiger Abend mit Mutter und Tochter Juin, das klinge phantastisch. Als er das Wort phantastisch sagt (formidable), leuchtet Ceciles Gesicht mit einem Ausdruck unverstellter Freude auf. In diesem Augenblick wird Walker klar, dass die Einladung nicht von Helene kommt, sondern von Cecile, dass sie ihre Mutter dazu angestiftet hat, ihn in ihre Wohnung zu bitten, und ihr wahrscheinlich tagelang damit in den Ohren gelegen hat. Bis dahin hat Cecile sich in seiner Gegenwart immer ziemlich bedeckt gehalten und keinerlei spontane Gefühlsausbrüche gezeigt, und dass sie nun plötzlich vor Freude übers ganze Gesicht strahlt, ist ein zutiefst beunruhigendes Zeichen. Dass sie sich in ihn verknallt, ist das

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