Unsichtbar
Schreien und Heulen, erklärt Cecile, ein großartiges Gedicht, ein wildes und äußerst modernes Gedicht, aber so einschüchternd, so schwer zu verstehen, so weit jenseits ihrer Fassungskraft, dass sie nach unzähligen Stunden harter Arbeit kaum hundertfünfzig Zeilen zustande gebracht hat. Wenn sie in dem Tempo weitermache, sagt sie und zieht wieder einmal die Mundwinkel nach unten, werde sie höchstens noch zehn oder zwölf Jahre für die Übersetzung brauchen.
Ihre selbstironische Art hält Walker nicht davon ab, Cecile für den Mut zu bewundern, mit dem sie ein so furchteinflößendes Gedicht in Angriff genommen hat, ein Gedicht, das er jetzt selbst gern lesen würde, und folglich fragt er sie, ob davon irgendwelche englischen Übersetzungen vorhanden seien. Das wisse sie nicht, antwortet sie, aber es werde ihr ein Vergnügen sein, das für ihn herauszufinden. Walker dankt ihr und fügt hinzu (aus schlichter Neugier, ohne Hintergedanken), er würde gern auch ihre französische Übersetzung des Anfangs lesen. Aber Cecile sträubt sich. Das kann Sie unmöglich interessieren, sagt sie. Das ist alles Mist. Hier tätschelt Helene ihrer Tochter die Hand und sagt, sie solle nicht so hart mit sich ins Gericht gehen. Dann meldet sich auch noch Born zu Wort. Adam ist ebenfalls Übersetzer, erklärt er Cecile. In erster Linie Dichter, aber auch Übersetzer von Gedichten. Aus dem Provenzalischen, stell dir vor. Er hat mir vor einiger Zeit ein Gedicht meines Namensvetters Bertran de Born verehrt. Beeindruckender Bursche, der alte Bertran. Manchmal hat er ein wenig den Kopf verloren, aber ein guter Dichter war er trotzdem, und Adams Übersetzung ist ausgezeichnet.
Ach?, sagt Cecile und sieht Walker an. Das wusste ich nicht.
Ob ausgezeichnet oder nicht, kann ich nicht beurteilen, sagt er, aber ich habe in der Tat ein wenig übersetzt.
Ja, antwortet sie, wenn das so ist...
Und einfach so, ohne krumme Touren, kommt Walker zu einer Verabredung mit Cecile: Am nächsten Nachmittag um vier Uhr wird er sie besuchen und sich ihr Manuskript ansehen. Ein kleiner Sieg, mag sein, aber mit einem Schlag hat er alles zuwege gebracht, was er sich für diesen Abend vorgenommen hatte. Er wird in Kontakt mit den Juins bleiben, und Born wird nicht mit von der Partie sein.
Am nächsten Morgen sitzt er an seinem wackligen Tisch, arbeitet mit einem Bleistift in der Hand eines seiner neueren Gedichte durch, wird immer unzufriedener und überlegt, ob er sich weiter damit abmühen und das Manuskript zur späteren Durchsicht beiseitelegen oder es gleich in den Papierkorb werfen soll. Er hebt den Kopf und sieht aus dem Fenster: grau und bedeckt, im Westen ein Wolkengebirge, wieder etwas Neues am immer neuen Himmel über Paris. Er findet die Düsternis im Haus ziemlich angenehm - eine lindernde Düsternis, gewissermaßen, eine gesellige Düsternis, eine Düsternis, mit der man sich stundenlang unterhalten könnte. Er legt den Bleistift hin, kratzt sich am Kopf und atmet aus. Ungeheißen rauscht ihm ein Vers des Predigers Salomo ins Bewusstsein. Dann richtete ich mein Sinnen darauf, Weisheit und Wissen, Torheit und Unverstand zu durchschauen ... Und als er die Worte rechts an den Rand seines Gedichts schreibt, fragt er sich, ob das nicht das Wahrhaftigste ist, was er seit Monaten über sich geschrieben hat. Die Worte mögen nicht von ihm stammen, aber er hat das Gefühl, sie gehören ihm.
Halb elf, elf Uhr. Der gelbliche Schein der in der Flaschenlampe auf dem Schreibtisch leuchtenden Glühbirne. Der tropfende Wasserhahn, die abblätternde Tapete, das Kratzen seines Bleistifts. Er hört Schritte auf der Treppe. Jemand nähert sich, steigt langsam die Wendeltreppe zu seiner Etage empor, und zunächst nimmt er an, es ist Maurice, der immer halbbetrunkene Concierge, der ihm ein Telegramm oder die Morgenpost bringt, der liebenswerte Maurice Petillon mit seinen tausend Geschichten, die alle von nichts handeln, aber nein, es kann nicht Maurice sein, denn nun vernimmt Walker das Klacken hoher Absätze, und daher muss es eine Frau sein, und wenn es eine Frau ist, wer anders kann das sein als Margot? Walker freut sich, freut sich über die Maßen, ist geradezu benommen vor Glück ob der Aussicht, sie wiederzusehen. Er springt von seinem Stuhl und stürzt zur Tür, um ihr aufzumachen, bevor sie zum Anklopfen kommt.
Sie hat eine kleine, wachsbeschichtete Patisserietüte mit frischgebackenen Croissants mitgebracht. Unter normalen Umständen ist ein Mensch,
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