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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Geheimnis. Vielleicht verrate ich es Ihnen, wenn Sie es mir zurückgeben, aber vorher auf keinen Fall.
    Das heißt, Sie wollen es mir leihen?
    Selbstverständlich. Sie können es behalten, so lange Sie wollen.
    Und wie ist die Übersetzung? Haben Sie sich das genauer angesehen?
    Mein Englisch ist nicht so gut, aber mir kommt die Übersetzung bieder und pedantisch vor, leider ziemlich altmodisch. Und was noch schlimmer ist, es ist eine wörtliche Prosaübersetzung, kein bisschen poetisch. Aber wenigstens vermittelt sie einen Eindruck von dem Gedicht - und warum ich solche Schwierigkeiten damit habe.
    Cecile schlägt das Buch auf der zweiten Seite des Gedichts auf und zeigt auf Zeile einunddreißig, wo Kassandras Monolog beginnt. Sie sagt zu Walker: Wollen Sie mir nicht ein wenig daraus vorlesen? Dann können Sie sich selbst ein Bild davon machen.
    Walker nimmt das Buch von ihr entgegen und legt sofort los: Ach, meine unglückliche Amme, verbrannt noch zuvor durch die Kriegsschiffe des Löwen, der gezeugt ward in drei Nächten, welchen des alten Triton Hund verschlungen, bewehrt mit schartigen Zähnen und klaffendem Rachen. Doch er, lebendiger Zerleger der Leber des Ungeheuers, kochend im Kesseldampf auf feuerloser Herdstelle, warf die Borsten seines Hauptes zu Boden; er, Schlachter seiner Kinder, Zerstörer meines Vaterlandes; welcher schlug seine zweite Mutter unverwundbar mit kränkendem Speer an die Brust; welcher auch inmitten der Rennbahn mit Armen umspannte den Leib seines Erzeugers neben dem steilen Hügel des Kronos, wo sich das pferdeschreckende Grab des erdgeborenen Ischenos befindet; welcher ebenfalls erschlug den grimmigen Hund, der die Meerenge der ausonischen See bewachte, fischend über ihrer Höhle, die stiertötende Löwin, welche ihr Vater wieder zum Leben erweckte, zeichnend ihr Fleisch mit Brandeisen; sie, die nicht fürchtete Leptynis, die Göttin der Unterwelt ...
    Walker legt das Buch hin und grinst. Das ist Irrsinn, sagt er, ich verstehe kein Wort.
    Ja, die Übersetzung ist schauderhaft, sagt Cecile. Das kann sogar ich hören.
    Es geht nicht bloß um die Übersetzung. Ich habe keinen Schimmer, was da beschrieben wird.
    Das liegt daran, dass Lykophron so indirekt ist. Lykophron der Dunkle. Man hat ihn nicht grundlos so genannt.
    Trotzdem ...
    Man muss die Anspielungen entschlüsseln. Die Amme ist eine Frau namens Ilios, zum Beispiel, und der Löwe ist Herakles. Laomedon hatte versprochen, Poseidon und Apollon für den Bau der Mauern Trojas zu bezahlen; als er sein Wort bricht, erscheint ein Seeungeheuer - Tritons Hund - und verschlingt seine Tochter Hesione. Herakles steigt in den Bauch des Ungeheuers und tötet es. Laomedon hatte gesagt, Herakles solle als Lohn für die Tötung des Ungeheuers die Pferde des Tros erhalten, doch wieder bricht er sein Wort, und der wütende Herakles bestraft ihn, indem er Troja niederbrennt. Das ist der Hintergrund der ersten Zeilen. Wenn man diese Anspielungen nicht erkennt, ist man aufgeschmissen.
    Als ob man Finnegans Wake ins Mandarin übersetzen wollte.
    Ich weiß. Deswegen habe ich es auch satt. Die Sommerferien gehen nächste Woche zu Ende, und mein Sommerprojekt ist im Eimer.
    Sie geben auf?
    Als ich gestern Abend vom Essen nach Hause kam, habe ich meine Übersetzung noch einmal durchgelesen und dann in den Müll geworfen. Sie war furchtbar, einfach nur furchtbar.
    Das hätten Sie nicht tun dürfen. Ich habe mich darauf gefreut, das zu lesen. Zu peinlich.
    Aber Sie haben es mir versprochen. Deswegen sitzen wir doch jetzt hier - weil Sie mir Ihre Übersetzung zeigen wollten.
    Das war der ursprüngliche Plan, aber ich habe mir etwas anderes überlegt. Und das wäre?
    Ihnen dieses Buch zu geben. Dann ist mir heute wenigstens etwas gelungen.
    Ich glaube, ich will es nicht mehr. Das Buch gehört Ihnen. Sie sollten es behalten, als Andenken an die Mühen dieses Sommers.
    Aber ich will es auch nicht. Mir wird schon schlecht, wenn ich es nur ansehe.
    Was sollen wir dann damit machen?
    Keine Ahnung. Es jemand anderem schenken.
    Wir sind hier in Frankreich, schon vergessen? Welcher Franzose, der noch alle Tassen im Schrank hat, interessiert sich für die schlechte englische Übersetzung eines undurchdringlichen griechischen Gedichts?
    Auch wieder richtig. Also schmeißen wir es einfach weg?
    Das wäre barbarisch. Bücher soll man mit Respekt behandeln, auch die, die man nicht leiden kann.
    Dann lassen wir es hier liegen. Hier auf dieser Bank. Ein anonymes Geschenk

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