Unsichtbare Blicke
darauf?»
«Ich sehe dich.»
Er sah mich?
Manchmal war er sonderbar. Seine Intuition war erschreckend und überwältigend gewesen in den Wochen, die wir nun in Kontakt standen, aber diese Bemerkung war unheimlich. Ich wischte mir durchs Gesicht, als fänden sich dort noch Spuren meiner Gedanken, die mich mit Felix verbanden.
Ich sehe dich. Genau das war mein Gefühl: Er sieht mich, ich sehe ihn. Eben weil wir uns nicht sahen. Das war das Besondere, dass man einen Menschen so viel besser begreifen konnte.
Er schickte eine ganze Reihe von Smileys. «Siehst du, alleine an der langen Pause erkenne ich, dass etwas nicht stimmt», fügte er hinzu. «Und jetzt lachst du!»
Und tatsächlich, ich lachte.
«Bist du eifersüchtig?», fragte ich.
«Sollte ich?»
Ich spürte, wie ich den Rücken durchdrückte. Auf diese Idee war ich beim besten Willen bisher nicht gekommen. Andererseits hatte ich ihm gegenüber kein Wort über Felix verloren. Und gegenüber Felix keins über Geronimo. Es gab da schließlich nichts zu erzählen. Sie hatten schlichtweg nichts miteinander zu tun, sie waren keine Konkurrenten. Ich hatte schon oft miterlebt, wie sich Mädchen aus meiner Stufe beim Chatten verknallt hatten, und das war schlimmer als echtes Verliebtsein, ein böses Erwachen in fast allen Fällen. So blöd musste man erst einmal sein, ich war es nicht.
«Was liest du da gerade?», fragte er.
Ich war froh, dass er nicht weiter auf dem Thema herumritt. Meine Hand langte nach dem ramponierten Taschenbuch, das vor mir auf dem Tisch lag.
«Madame Bovary. Kennste?»
«Klar. Langweilig, oder?»
Ich grinste. Felix fand es dämlich. Er fand es langweilig. Sarah hatte wahrscheinlich nur die Zusammenfassung gelesen. Es sah ganz so aus, als sei ich ziemlich alleine mit meiner Begeisterung für untreue Frauen im neunzehnten Jahrhundert.
«Lies mal Nora, von Ibsen, nicht so schwülstig und bringt die Sache viel mehr auf den Punkt.»
Er überraschte mich wieder einmal. Ich googelte Nora und Ibsen und stellte fest, dass es um ein ähnliches Thema ging. Mit dem Unterschied, dass es sich um ein Theaterstück handelte.
«Ach ja, und schau mal in deine Mails.»
Ein Gänseschnattern kündigte im selben Augenblick den Eingang einer Nachricht an. Ich wechselte zu dem E-Mail-Programm, wo eine ungelesene Nachricht von Geronimo wartete.
Im Chatfenster verabschiedete er sich, ohne eine Reaktion von mir abzuwarten. Ich tippte schnell noch eine Antwort, aber er war weg. Seine plötzlichen Aufbrüche nervten mich gelegentlich.
Der Anhang seiner Mail verschlug mir für einen kurzen Augenblick die Sprache.
17
Stella hatte die Jalousien herabgelassen, um für die Präsentation vor der großen Gruppe optimale Sichtverhältnisse zu haben. Der große Konferenzraum lag im Dämmerlicht. Saito hatte sämtliche Daten auf dem Laptop zusammengeführt und ließ sie nun über den Beamer durchlaufen. Es würde der erste große Auftritt der Sondereinheit sein.
Es hatte sie einige Überzeugungskraft gekostet, dass sie mit ihrem Team nicht in der Wiesbadener BKA -Zentrale angesiedelt worden waren. Stella hatte mit der Unabhängigkeit der Gruppe argumentiert, keine Bevormundung durch die Bundesbehörde und so weiter. Letztendlich hatte sie einfach nicht aus Köln weggewollt.
Die Kölner Kriminaldirektion 1 hatte zusammenrücken müssen und der
Sonderermittlungsstelle für Delikte an Kindern und Jugendlichen
, wie ihre Gruppe offiziell hieß, ein paar Räume abgetreten. Genau genommen war schon die Bezeichnung
Gruppe
schöngeredet; bisher gab es genau zwei Mitglieder, nämlich sie und Miki. Dazu ein paar Computer und viele gute Worte.
Jetzt sollte sich zeigen, ob die ehemaligen Kollegen der Kommissariate ihren neuen Status anerkennen würden. Vor allem aber, ob sie vergessen konnten, dass sie im vergangenen Jahr gegen eine aus den eigenen Reihen ermittelt hatte. Verdeckt. Einige warteten nur darauf, dass es schiefging.
Aber Stella war noch immer davon überzeugt: Sie hatte richtig gehandelt – auch wenn es ihrer Freundin Anka das Genick gebrochen hatte. Der leitende Kriminaldirektor Rüdiger Winterstein würde es Stella nie verzeihen, weil es seine Karriere kurz vor der Pension ins Schleudern gebracht hatte. Und weil der Polizeipräsident Stella hinter seinem Rücken auf die Sache angesetzt hatte.
Sie war gespannt, ob Winterstein selbst an der Sitzung in ein paar Minuten teilnehmen würde. Eigentlich war sie nicht der Typ, der sich unter Druck setzen ließ,
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