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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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mein Zimmer spätestens ab Mittag erbarmungslos auf, während ich im Winter oft mit einer Mütze schlafen musste; den Dachschrägen hätte eine ordentliche Schicht Styropor gutgetan. Jetzt klebten selbst das Trägershirt und die Shorts auf meiner Haut.
    Eigentlich war das Thema meines Referats gerade gut für dieses Wetter. Der Kalte Krieg. Der Bau der Mauer. Wie sie wieder gefallen war. Ich hätte längst mit meinen Eltern darüber reden sollen. Mama hatte mir nur wenig erzählt, von den Studios in Babelsberg, wo sie ungefähr in meinem Alter als Garderobiere angefangen hatte, bei der DEFA , die in der DDR die wichtigste Filmproduktionsfirma gewesen war.
    Eine klare Hackordnung hatte es gegeben, auch im Arbeiter- und Bauernstaat, wer die Kostüme bügeln musste, wer den Schauspielerinnen zur Hand ging, wer zu den Anproben durfte. Und das hatte natürlich darüber entschieden, wer die Reste der begehrten Stoffe abstauben konnte, die man nie in einem Laden ergattern würde.
    Mein Vater war damals schon so eine Art Hausmeister gewesen und Mitglied in der SED , aber nicht richtig, wie Mama immer wieder betonte. Von ihm hörte man dazu nie etwas, wodurch der Verdacht in mir gewachsen war, dass es sogar mehr als
richtig
, mehr als nur die Partei gewesen war.
    Nach der Wende hatten sie es nur ein paar Jahre ausgehalten und meine Ankunft zum Anlass genommen, im äußersten Westen des neuen Staates, in dem sie sich dann nicht wirklich zurechtfanden, einen zweiten Versuch zu machen. Fuß gefasst hatte mein Vater erst, als die Brüder des Lichts ihre Gemeinde hier im Ort gründeten. Vom sozialistischen Atheisten zum ultrarechten Christen, schlimmer als der Papst. Vielleicht war das sein Notausgang gewesen.
    Ich hatte erst seit dem letzten Schuljahr begonnen, mir überhaupt Gedanken darüber zu machen, als wir mit dem Geschichtskurs einen Film über die RAF -Terroristen angeschaut hatten und die Frage aufkam, wie wir reagiert hätten, wenn wir an der Stelle der Studenten in den Sechzigern und Siebzigern gewesen wären, die gegen den alten Muff, gegen die Verdrängung der Vergangenheit auf die Straße gegangen waren und vor allem dagegen, dass immer noch die alten Nazis in Behörden und Gerichten und in den Universitäten auf hohen Posten gesessen hatten.
    «Stellt euch vor, euer Vater wäre ein Spitzel bei der Stasi gewesen oder sogar ein hohes Tier im Ministerium für Staatssicherheit. Was würdet ihr ihn fragen?»
    Mein Vater hatte Kulissen in Filmstudios geschoben. Was sollte ich ihn fragen? Ich wollte einfach nur noch das Jahr überstehen, bis ich volljährig wurde.
    Sogar mein Computer hatte gegen die Hitze kapituliert und sich in den Ruhezustand versetzt. Ich wünschte mir, ich könnte es genauso machen. Zuerst irgendetwas dämliches abspulen, dann plöpp und Mattscheibe. Miss Josie hat sich leider abgemeldet. Stattdessen schlug ich eine Taste an, der dunkle Monitor flackerte einmal, und der Schreibtischhintergrund erschien. Der silbrige Mond mit der Silhouette der Frau passte so gar nicht in die Hitze.
    Ich öffnete ein Chatfenster.
    «Bist du da?», tippte ich und wartete.
    Um diese Zeit war er selten online, aber vielleicht hatte ich eine Chance. Ich wusste nicht genau, was er nachmittags tat, ob er wie ich Hausaufgaben machte oder irgendetwas ganz anderes.
    «Melde dich!», tippte ich ein und wollte mich schon wieder ausloggen, aber in diesem Moment flimmerte eine Antwort über das Chatfenster.
    «Alles safe?», stand darin.
    Ich schickte ein Smiley.
    Wieder wartete ich auf eine Antwort. Ich verstand. Unser Code, ich hatte es vergessen. Wir hatten beim letzten Mal Farin Urlaub ausgemacht.
    «Ich steh zwar ab und zu einfach nur so vor deiner Tür …»
    Die Antwort kam umgehend.
    «… doch im Prinzip will ich gar nichts von dir.»
    «Hast du dir das Lied runtergeladen?»
    «Jepp», antwortete er und dass er es ziemlich doof fände, ich sollte meinen Musikgeschmack doch noch einmal beim Arzt abgeben, kompletter Check, auch auf gefährliche Streuungen im Hirn und noch mehr im Herz. Wir plauderten ein bisschen über die Schule, über seinen Kumpel Tommi, der im Internat mit einer halben Flasche Wodka und einem Mädchen im Arm erwischt worden war, aber nach ein paar Zeilen wechselte er abrupt das Thema.
    «Bist du verliebt?», fragte er.
    Meine Finger lagen schon auf der Tastatur, um zu antworten. Nein, ganz bestimmt nicht, sollten sie schreiben, aber ich lehnte mich zurück, wartete, schrieb dann: «Wie kommst du

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