Unsichtbare Blicke
im Gegenteil: Sie bestimmte die Regeln und die Maßstäbe für ihre Arbeit. Das hatte Stella nicht immer gutgetan.
«Kann losgehen», sagte Miki Saito nach ein paar Minuten, und Stella war froh.
Winterstein betrat als Erster den Konferenzsaal, steuerte die Stirnseite des ovalen, einige Meter langen Tischs an. Er begrüßte Stella nicht. Die meisten anderen, die ihm folgten, kannte Stella: die Leute von der Kriminaltechnik, die IT -Leute Kluschke und Pettersson, ein seltsames Pärchen, das genau den Klischees von Computerfreaks entsprach. Sandra Völker, die jetzt die Pressestelle leitete und früher zu Ankas Team gehört hatte, rauschte wortlos an Stella vorbei.
In der zweite Reihe saßen einige Beamte aus den verschiedenen Kommissariaten.
Die Staatsanwältin Annika Borden setzte sich neben Winterstein. Sie war noch relativ neu, relativ gutaussehend und relativ instinktsicher.
Von außerhalb hatte Stella die Kriminalhauptkommissarin Petra Kronen dazu gebeten; sie leitete in Mecklenburg-Vorpommern die Ermittlungen im Fall Tania Stecker, dem ersten Mordopfer. Lorenz Muthaus vertrat die Wuppertaler.
Als Stella Atem holen wollte, um die Runde zu begrüßen und einen ersten Überblick zu geben, erhob Winterstein sich. «Meine Damen und Herren, wie Sie sicher alle wissen, haben wir zum ersten Mal die Ehre, der neuen Sonderermittlungseinheit des BKA bei der Arbeit zuzuschauen.»
Ein Schmunzeln huschte über das ein oder andere Gesicht.
«Natürlich tun wir gemäß des Beschlusses der Innenministerkonferenz alles, um diese komplizierte Angelegenheit schnell und effizient in den Griff zu bekommen. Ich stehe in ständigem Kontakt mit den Kollegen in den anderen Bundesländern.»
Bis zu diesem Punkt hatte Stella sich beherrschen können. Jetzt aber schritt sie ein.
«Vielen Dank für die Begrüßung, Herr Leitender Kriminaldirektor», wieder wurde geschmunzelt, dieses Mal jedoch von anderen Personen. «Da die Fäden hier», Stella pochte mit der Hand direkt vor sich auf die Tischplatte, «zusammenlaufen, müssen Sie sich keine Mühen mit der weiteren Koordination machen.»
«Sehr schön, sehr schön», murmelte Winterstein, erhob die Stimme und fuhr fort: «Vielleicht wenden wir uns zuerst dem wichtigsten Fakt zu, der diese Taten in eine Reihe stellt, die ominösen Zahlenfolgen an den Tatorten.»
«Es sind die Fundorte, nicht die Tatorte», betonte Miki. «Wir wissen sehr sicher, dass die Jugendlichen woanders getötet wurden. Einen Hinweis auf den Tatort könnte das Wasser in den Lungen der Mädchen geben. Es wies kleine Rückstände von Emaillepartikeln auf.»
Einer der Kriminaltechniker meldete sich zu Wort. «Wir analysieren gerade die Zusammensetzung, das dauert ein bisschen. Außerdem ist das Wasser von Algen, Schimmelpilzen und einem halben mikrobiologischen Zoo besiedelt. Es kann nur einer Quelle entstammen, die lange nicht genutzt wurde und der es an regelmäßigem Durchfluss mangelt.»
«Danke.» Stella nickte ihm freundlich zu. «Ich würde jetzt gerne der Reihe nach vorgehen.» Sie schaltete das Licht aus und gab Saito das Zeichen. «Tania Stecker aus Dortmund, das erste Opfer», sagte sie, als das Bild des Mädchens auf der Leinwand erschien.
Es war in einem professionellen Fotostudio aufgenommen worden. Ein Bewerbungsfoto wie tausend andere, angedeutetes Lächeln, schlichte Bluse, die braunen Haare an einer Seite hinters Ohr gesteckt, kein Schmuck außer einem schmalen Goldkettchen.
Tania sollte eines Tages die Spedition der Familie mit einem gewaltigen Fuhrpark in sechs europäischen Ländern übernehmen.
Ein zweites Foto zeigte die echte Tania, wie sie von ihren Freundinnen, den Lehrern und ihrer Familie beschrieben worden war: ein lebenslustiger Kumpel. Das Bild stammte aus einer Serie von Aufnahmen nach dem Gewinn der Kreismeisterschaft im Handball.
Die dritte Abbildung setzte den brutalen Schlusspunkt: Tania auf Treppenstufen, den Kopf an eine unverputzte Klinkerwand gelehnt, fast so, als ruhe sie sich vor dem Aufstieg noch ein wenig aus.
Die Stufen führten hinauf in einen Leuchtturm an der Mecklenburger Bucht, dem Fundort. Auf ihrem Unterarm stand die 011 , geschrieben mit neongrünem Marker.
Tania war vor gut achtzehn Monaten verschwunden, fast zehn Wochen später wurde sie tot aufgefunden.
Am Ablageort fanden sich keinerlei Spuren, die auf den Täter wiesen. Es gab ebenso wenig verwertbare Aussagen aus der Nachbarschaft, niemand hatte jemand gesehen, etwas gehört, gerochen –
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