Unsichtbare Blicke
Akten.»
Mommsen zögerte immer noch, dann aber sagte er: «Nehmen Sie das Büro von Sabine Zeissner, am anderen Ende des Gangs. Zeigst du es ihr, Katrin? – Allerdings müssen wir Meyerdonck aus der Rechtsabteilung hinzuziehen.»
Die Archivarin fragte, ob Stella einen Kaffee wolle. Sie nahm das Angebot an und wartete in dem Büro, das ihr zugewiesen worden war. Infoflyer lagen griffbereit in einem Display, an der Wand warben Plakate mit strahlenden Bilderbucheltern für Adoptionen; sie spielten mit einem ebenso strahlenden vierjährigen Blondschopf, den Vater und Mutter jeweils an einem Händchen hielten. Engelchen, flieg. Selbst bei Adoptionen musste eine Familienidylle aus der Margarinewerbung herhalten.
Nach kurzer Zeit wurde die Tür geöffnet. Katrin Möller trat mit zwei Porzellanbechern, in denen der Kaffee schwappte, herein. Sie entschuldigte sich, dass sie nicht nach Milch und Zucker gefragt hatte.
Stella winkte ab. Der Zucker war ihr egal, wahrscheinlich war jetzt die letzte Gelegenheit, aus der Frau noch etwas herauszukriegen, ohne von einem Justitiar behindert zu werden. Die Akten, auf die Stella so scharf war, klemmten unterm Arm von Katrin Möller.
«Ich helfe Ihnen», sagte Stella und nahm die Mappen, nicht den Kaffee. «Frau Möller, wer hat Zugang zu diesen Akten?»
Katrin Möller wand sich ein paar Minuten. Genau genommen kamen nur Mitarbeiter des Teams in Frage. Sie biss sich auf die Lippen, als ihr bewusst wurde, was das bedeutete. «Eigentlich ist das System sehr sicher», sagte sie leise.
«Eigentlich?»
Katrin Möller holte zu einer weitschweifigen Antwort aus, aber die Kommissarin unterbrach sie sofort.
«Dieser Täter, von dem wir noch keinerlei brauchbare Spur haben, hat zwei Ihrer Schützlinge getötet.» Sie tippte auf die Mappen vor sich.
Katrin Möller richtete sich auf. Kerzengerade saß die Frau da, als habe ihr jemand den Ellbogen in den Rücken gerammt. «Ich hatte gehofft, dass nichts passiert», flüsterte sie nach einer kleinen Ewigkeit. Ihre Stimme war kaum zu hören.
«Es ist aber etwas passiert, und wenn Sie etwas damit zu tun haben, ist jetzt der Zeitpunkt, darüber zu reden.»
Katrin Möller holte tief Luft.
«Es hilft ja nichts, man muss sich den Dingen stellen. Mommsen hat versucht, es zu …» Sie traute sich nicht, das Wort auszusprechen.
«Vertuschen?», half Stella ihr.
«Mein Gott, er stand kurz davor, die Leitung der Vermittlungsstelle zu bekommen, und er ist dafür auch der Richtige, das können Sie mir glauben. Er wickelt die Verwaltung und die Politik ein, wirklich, kaum eine Einrichtung in der Stadt wurde so von Etatkürzungen verschont. Er ist immer der Letzte hier, der das Licht ausmacht. Der Verwaltungsbereich gehörte auch vorher schon zu seiner Zuständigkeit, und es wäre garantiert anders ausgegangen, wenn die verschwundenen Akten mit in die Beurteilung eingeflossen wären.»
«Diese Akten waren verschwunden?», fragte Stella nach.
Katrin Möller nickte. «Und noch einige andere.»
Nun konnte Stella ein Seufzen nicht unterdrücken. Also gab es wahrscheinlich weitere potenzielle Opfer.
«Es waren ja alles Fälle, die schon über fünfzehn Jahre zurücklagen, keine Kleinkinder mehr, wissen Sie, da ist es oft heikel, dann tauchen Väter oder angebliche Väter auf, die behaupten, das Kind sei von ihnen, und das Sorgerecht beanspruchen. Wir haben gehofft, dass es sich nicht um einen Diebstahl handelte», sagte sie endlich.
«Sondern um was?»
«Schlamperei, vielleicht waren sie aus Versehen in den Reißwolf gewandert.»
Ja, dachte Stella, es gab immer Möglichkeiten, sich die Dinge schönzureden. Natürlich waren die Familien nicht informiert worden.
«Wann war das?»
«Vor ungefähr anderthalb … nein, vor knapp zwei Jahren.»
«Und dann?»
«Na ja, wir haben versucht, die Fälle zu rekonstruieren, die Sachbearbeiter führen manchmal, nun … so eine Art Handakten, das ist natürlich nicht erlaubt, aber in diesem Fall war es dann hilfreich.»
«Wie viele Adoptionen waren betroffen?»
«Es war ein schwaches Jahr, sieben.» Katrin Möller zählte den kleinen Aktenstapel durch. «Acht, es waren acht insgesamt.» Nach einer Pause fügte sie hinzu: «Inklusive der beiden … toten Mädchen.»
Stella konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Also waren eventuell sechs weitere Personen in akuter Gefahr.
In diesem Augenblick öffnete sich nach einem eher angedeuteten Klopfen die Tür. Dieter Mommsen ließ einem hochgewachsenen Mann
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