Unsichtbare Blicke
in den Fünfzigern im dunkelblauen Zweireiher mit Weste den Vortritt. Er baute sich direkt vor Stella auf. «Ulf Meyerdonck», stellte er sich vor.
Verbrauchter Atem, der nach Kaffee und Tabak roch, schlug Stella entgegen.
«Hier gelten natürlich die ganz normalen Regeln, Frau …?», legte er sofort los.
Sein Lächeln sollte verbindlich wirken. Bei Stella kam es an, wie es wirklich war: gekünstelt, falsch. In dem Gespräch, das er vorher mit Mommsen geführt hatte, war ihr Name sicher gefallen, aber der Jurist wollte gleich das Gefälle bestimmen. Stella ließ sich nicht auf sein Spiel ein und nannte ihren Namen, fügte ihren Dienstgrad hinzu und verschwieg auch ihre Position als Leiterin der Sonderermittlungsgruppe nicht. Das alles in einem absolut neutralen Ton.
«Kommen wir zu den normalen Regeln», sagte Stella.
«Natürlich unterstützen Herr Mommsen und sein Team Sie bei den Ermittlungen nach allen Kräften, aber …»
Bla, bla, bla, dachte Stella und ließ den Sermon über sich ergehen. Im Anschluss stellte sie unmissverständlich klar: «Ich will Einblick in alle Vorgänge, die mit den betroffenen Jugendlichen zu tun haben, Herr Meyerdonk, dazu eine Liste aller Beschäftigten zum Zeitpunkt der Adoptionen.»
«Alles zu seiner Zeit», beschied Meyerdonck. «Wir überprüfen Ihre Zuständigkeit und die Berechtigung. Wir sind das den Menschen, die hier Rat und Hilfe suchen, schuldig. Wenn keine akute Gefahr besteht …»
«Es besteht akute Gefahr für sechs weitere Jugendliche!», fuhr Stella dazwischen. Sie legte eine Hand auf die Akten. Der Typ reizte sie, die joviale Art, Recht und Ordnung vorzuschieben, Güter, die gerade Männer wie er permanent dehnten und strapazierten.
«Glauben Sie mir, ich werde Ihr Anliegen so schnell wie möglich prüfen.»
«Glauben Sie mir, Herr Meyerdonck, ich werde diese Akten mitnehmen. Jetzt. Egal, was Sie prüfen. Sie können sich gerne an meine Vorgesetzten im Bundeskriminalamt wenden.»
20
Ich war für die Spielerunde eingeteilt worden, eine der Aufgaben im Altenheim, für die man Nerven wie Drahtseile brauchte.
«Die Schachtel hat sich verzählt», ätzte Herr Malewski, dabei war eigentlich er meistens der Betrüger.
«Ich muss sehr bitten.» Die Beschuldigte drohte dem greisen Männlein mit dem Stock.
«Meine Herrschaften», seufzte ich und stupste Frau Diepenbrock an, die ein Nickerchen eingelegt hatte.
Ich wusste nicht, ob Frau Flossdorf sich verzählt hatte, ob sie ein Feld vor dem Stall hätte landen müssen, ob Herr Malewski wirklich eine Sechs gewürfelt hatte. Ich wusste gerade eben noch, wie das Spiel hieß, dass meine Steine die gelben waren und ich hoffnungslos hinten lag.
Zum Glück konnten Schwester Theofila und die anderen meine rosarote Brille nicht sehen, durch die ich von morgens bis abends auf die Welt schaute. Selbst mit meinem Vater hatte sich eine Art Waffenstillstand ergeben, unausgesprochen, aber irgendwie verschwamm sogar sein Verhalten und verlor die harten Konturen.
Gegenüber Geronimo verlor ich kein Wort über Felix, was mir schwerfiel. Er hatte in der letzten Zeit alles mit mir geteilt und sich mein Gejammer angehört, vom neuen Glitzer in meinem Leben bekam er nun nichts ab. Allerdings fragte er auch nicht.
Die alten Leute waren beim
Mensch ärgere dich nicht
viel zu sehr mit ihrer Zankerei beschäftigt; sie registrierten genauso wenig, wie weit weg ich gerade von ihnen und der Frage war, ob jemand schummelte oder nicht. Erst als die sonst so vornehme Frau Flossdorf mit dem Elfenbeinknauf ihres Gehstocks auf den Tisch donnerte und das Spielbrett auf den Boden pfefferte, kam ich wieder in der Realität des
Fürstlich Bergfeldschen Stifts
an. Ich schlug meinen Schützlingen vor, lieber etwas zu basteln.
Nicht ganz uneigennützig. Während Frau Flossdorf und Herr Malewski sich nun um die Malutensilien stritten, fummelte ich eine Kette aus bunten Perlchen zusammen. In der Mitte fädelte ich jeweils sechs grüne, gelbe und rote auf; sie sollten die italienische Flagge darstellen. Die weißen Perlen hortete Frau Diepenbrock.
Nach der Schicht wartete Felix an der Bushaltestelle auf mich. Ausnahmsweise fuhr nicht Bugsie den 143 er. Felix stieg mit mir aus. Wir warteten, bis der Bus hinter der nächsten Biegung verschwand.
Auf der Koppel des Reiterhofes rupften ein paar Pferde am Gras. Die warme Luft zauselte in Felix’ Locken. Um uns herum herrschte eine ungewöhnliche Stille, keine Grille zirpte, nur die Böen verwehten hin
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