Unsichtbare Blicke
so gut wie nichts. Mein Gehirn schwappte.
«Ich penne bei dir, okay?», schlug Sarah vor. «Und als Allererstes mache ich oben Klarschiff.»
Sarah verließ die Küche. Ich hörte, wie sie nach oben ging. Kurz darauf schallte ihre Stimme durchs Haus. «Kannst kommen.»
Beim Anblick meines Zimmers musste ich grinsen. Sarah hatte den Computer nicht nur ausgeschaltet und vom Stromnetz getrennt, sondern eine dicke Decke darübergelegt. Sie kramte in meinem Kleiderschrank. Ein weites, gelbes T-Shirt fand ihre Gnade. Nachdem sie es übergestreift hatte, tanzte sie nur noch mit einem Slip und T-Shirt bekleidet durch das Zimmer, zog dem unter der Wolldecke versteckten Monster eine lange Nase und plumpste ins Bett. Ich legte mich neben sie. Es brauchte nicht lange, bis Sarah leise röchelnd schlief, mir selbst brachte aber auch die Flasche Bier nicht die ersehnte Ruhe. Es war die Angst vor Albträumen, die mich wach hielt und mehr noch geisterte mir Felix durch den Kopf.
Ich konnte ihn noch so wenig einschätzen. Seit wir mit Bugsie im Graben gelandet waren, war nur so wenig Zeit vergangen; die Stunden, die wir wirklich zusammen gewesen waren, Zeit für uns gehabt hatten – es war nichts, gemessen an dem, was man vielleicht eine Beziehung nennen konnte. Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein.
Am nächsten Morgen war Sarah verschwunden. War sie überhaupt hier gewesen? Die Wolldecke, die sie über den Tisch gebreitet hatte, lag zusammengefaltet auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch, darauf das gelbe Shirt. Mein Computer war weg.
10 . September 1989
Bolheim war rübergemacht. Über Ungarn, hieß es. Sogar bis zu ihnen war die Nachricht durchgekommen. Rübermachen. Es machten immer mehr rüber. Sie kletterten über die Zäune der Botschaften von unseren Bruderstaaten. Und dann war der Sommer gekommen, und er hatte an die Muscheln gedacht und den Sand zwischen den Zehen und den Leuchtturm, das tat er jedes Jahr, seit elf Jahren schon, und dann war Bolheim nicht zum Dienst erschienen. Sie hatten versucht, es zu verheimlichen, aber alle Jungs wussten es.
«Major Tom», hatte Monk gesagt, er hatte irgendwann begonnen, Tommi so zu nennen, Monk sprach es englisch aus, weil es aus einem Lied stammte, von einem Klassenfeind, was gut war, aber auch von einer geschminkten Schwuchtel, aber das war egal, Tommi gefiel sein neuer Spitzname. «Eins sag ich dir: Wenn einer wie Bolheim nicht mehr vom Plattensee zurückkommt oder wo der uns immer von vorgeschwärmt hat, sein FKK -Club und all das, Major Tom», hatte er gesagt und ihn geschüttelt, an den Schultern, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte, «wenn die Erzieherärsche schon abhauen, dann ist es nicht mehr lange hin, kannste mir glauben.»
Viele von uns waren im Heim, weil die Eltern rübergemacht waren oder es versucht hatten oder einfach nur, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten oder mit den falschen Leuten darüber geredet. Nur Monk galt als einfacher Asozialer. Dass einer wie Bolheim es tun würde, damit hatte keiner gerechnet.
Monk und ich waren noch da, gehörten zu den Alten, wir hatten es geschafft oder auch nicht, wie man es sah. Wir durften vorne im Haus schlafen, in der Villa, wie die Erzieher es nannten, nicht mehr hinten in den Baracken, die immer muffig rochen, obwohl sie so zugig waren.
Und wenn man den Weg über die Kohlenrutsche kannte, konnte man auch nachts auf Tour gehen, das Gelände war groß, und manchmal hatten wir noch Karnickel gejagt und ein paar Vögel, aber nicht mehr so oft, und ins Bett hatten wir sie auch niemandem mehr gelegt.
Ein paar waren in noch schlimmere Löcher verlegt worden, aber viele hatten es auch irgendwohin geschafft, ins Normale, wenn es das für Leute wie uns gab.
Und Neue waren gekommen und wieder gegangen.
Marco war erst drei Wochen da, und er hatte erzählt, dass die Leute einfach über die Mauern geklettert seien, in die Botschaften in Prag oder so, und er hatte es gesehen, mit eigenen Augen, im Westfernsehen, aber sie hatten ihn trotzdem noch zu uns gebracht.
«Sie sind rüber», hatte Marco gesagt. «Jeder haut jetzt einfach ab, wohin er will.»
Tommi hatte es versucht, aber er war nicht mal bis zur inneren Mauer, die das Gelände der Wohngebäude umschloss, gekommen. Der Typ, der Bolheim ersetzt hatte – ein paar andere Typen, denen das Spaß machte, waren geblieben –, Tommi wollte sich nicht mal seinen Namen merken, er merkte sich den Namen einfach nicht mehr, sondern nannte ihn für
Weitere Kostenlose Bücher