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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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bis ich es aus voller Kehle brüllte, es mir weh tat, die Stimmbänder rebellierten.
    Um mir sicher zu sein, dass ich es selbst war, dass nicht die Panik über mich schwappte und mir Dinge weismachte, die nicht da waren, wiederholte ich es ganz ruhig, als plauderte ich mit Bugsie, dem Busfahrer, oder Frau Kluth im Eiscafé.
    Normal, sei normal, Josie.
    Nicht zu laut, ganz normal, aber ohne ein Zittern in der Stimme, ohne Schluchzen. Fang erst gar nicht damit an, sagte ich mir, wenn du einmal ins Rutschen gerätst, verlierst du dich, und du bist im Moment das Einzige, das du hast! «Josie, hör auf», sagte ich. «Wenn er dir etwas antun wollte, hätte er es sofort getan. Er hat dich eingesperrt, du wirst erfahren, was er will.»
    Trotzdem spürte ich, wie dick und trocken meine Zunge war. Trocken und pelzig. Das war Wirklichkeit, diese Zunge war Wirklichkeit.
    Und der Raum. Ich hatte mittlerweile jeden Zentimeter abgetastet. Es war ein Raum. Mit Möbeln. Etwas wie ein Schreibtisch, mit einem Stuhl davor. Der Stuhl war aus Holz, kein Schreibtischstuhl auf Rollen, höhenverstellbar, ein einfacher Holzstuhl mit einem dünnen Sitzkissen darauf.
    Wenn er dich verrotten lassen wollte, hätte er dich in einen Keller gesperrt, einen Schacht, einen Brunnen geworfen, nicht in dieses Zimmer, Josie.
    Rechts vom Tisch stand ein Regal, zwischen dem Regal und der Ecke ungefähr eine Armlänge, ein Schrank mit zwei Türen. Der Schrank war verriegelt, es gab ein kleines Schloss, aber der Schlüssel steckte nicht. Dann die Tür, auf der ein Plakat hing, die Oberfläche war glatt, kein einfaches Papier, es musste etwas wie ein Plakat sein, dann weniger als eine Armlänge, eine Ecke mit einem Kleiderhaken, etwas aus Frottee, ein Bademantel, dick und flauschig, nicht so fadenscheinig zerwaschen wie meiner zu Hause, und er roch auch anders.
    Neu, er war noch nie gewaschen, die Chemikalien, mit denen das Gewebe behandelt war, stachen mir in die Nase, wörtlich, es stach, wie fast alle neuen Klamotten, weshalb Mama sie immer zuerst mit unparfümiertem Waschmittel in die Maschine stopfte.
    In der Ecke hingt ein Waschbecken. Ich ertastete den Wasserhahn, drehte ihn auf, es kam kein Wasser, nur ein paar Tropfen platschten in das Becken, es klang wie Metall, kein Porzellan, aber die Oberfläche war trotzdem ganz glatt.
    Dann endete meine Runde wieder am Bett. Es stand ein Nachttisch daneben.
    Warum musste es so dunkel sein, warum durfte ich nichts sehen? Ich hatte nie Angst im Dunkeln, auch als Kind nicht. Dunkelheit verändert nichts, alles ist genau wie vorher, Dunkelheit macht kein Gerippe aus dem Kleiderständer und keine Monster aus den Bäumen vor dem Fenster. Äste, keine Arme, nur Äste, die im Herbst ihre Blätter verloren, um im Frühling neue zu bekommen, Josie, Dunkelheit ändert nichts.
    Erinnere dich, Josie, erinnere dich. Du darfst nichts vergessen!
    Ich hatte die Fotos von Felix und mir in meinem Spind im Altenheim versteckt, dort waren sie am sichersten, das Schloss hatte ich selbst mitgebracht, um sicher zu sein, dass die Schwestern nicht schnüffelten, schon am ersten Tag hatte ich den Verdacht gehabt; während ich das Essen austeilte, hatte jemand in meinen Sachen gekramt, und ich hatte mir ein Vorhängeschloss gekauft.
    Früher gehen, ich durfte früher als sonst gehen, weil mir schlecht war, ich habe behauptet, mir sei schlecht. Die Mutter Oberin hat es nicht geglaubt, aber das war egal.
    Ich hatte Geronimo geschrieben, wir müssen uns treffen, und er hatte geantwortet, nimm den Zug von Düsseldorf nach Venlo.
    Holland, er war in Holland, nach Venlo, den Zug um 08 : 46  Uhr, morgen, steig dort aus und warte am Servicepoint. Komm alleine!!!, hatte er befohlen, drei Ausrufezeichen, alleine!!!
    Ich hatte Sarah angerufen, sie sollte kommen, bei mir übernachten, aber er war da. Er war in der Wohnung. Erinnere dich, Josie, was war anders? War etwas anders? Wie war er in unser Haus gekommen?
    Die Garage, durch die Garage, sie schließt nicht richtig, man muss nur daran ziehen, einmal, zweimal, etwas fester, dann konnte er überall hin, durch die Garage, er ist durch die Garage gekommen.
    Er hat sein Auto in die Garage gestellt, so einfach war es, er musste ein Auto haben, sonst konnte er mich nicht wegbringen. Erinnere dich, Josie, was war anders, hast du etwas gesehen? Wenn du dich befreien willst, musst du dich erinnern! Erinnern …
    Ich war so erschöpft. So müde. Ich kann mich nicht erinnern, ich habe nichts gesehen, nur

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