Unsortiertes
ihm gereichten Seiten. „Ja, das ist seine Handschrift meines Bruders,
da bin ich mir sicher.“ Er nestelte an einer Jacke, holte ebenfalls einen
Umschlag heraus. „Hier, das ist der letzte Brief von ihm, zu meinem 17.ten
Geburtstag; den habe ich immer bei mir. Sie können gerne vergleichen!“
„Danke!“ Die Silberlocke wirkte fast schüchtern, als er das
Erinnerungsstück entgegen nahm.
Kotelette saß mittlerweile wieder. „Herr Vorsitzender! Was ist nun mit
meinem Beweisantrag?“
„Moment! Es ergeht folgender Beschluss: Erstens …“ Er blickte zu seiner
Protokolldame. „… das Gericht zieht sich zur Beratung über die Beweisanträge
von Verteidigung und Staatsanwaltschaft zurück. Zweitens: Die Hauptverhandlung
wird für 20 Minuten unterbrochen.“ Er schaute nun mich an. „Herr Kleeve, sie
sind noch nicht entlassen! Wir sehen uns gleich wieder!“
Ich wusste nicht, wie mir geschah. „Wenn sie meinen!“
Die Richter verließen durch eine Tür hinter ihnen den Sitzungssaal,
fast alle Anwesenden erhoben sich, ich tat es ihnen nach. Am Ausgang tippte mir
jemand auf die Schulter, ich drehte mich um, es war die zweite Ausgabe von
Enrico. „Darf ich sie mal kurz sprechen?“
„Aber immer doch, ich würde nur gerne eine Zigarette …“ Warum war ich
so gehemmt?
Mein Gegenüber lachte. „Ich auch!“
Gemeinsam verließen wir das Gebäude, ich hatte keine Lust, erst einen Raucherraum
zu suchen. Als wir in der Kälte standen, uns gegenseitig mit Feuer versorgt
hatten, lächelten wir uns an. „Du bist also Enricos Bruder?“
„Der bin ich!“ Der junge Mann grinste. „Und du warst sein Lover?“
Ich inhalierte tief. „Ich wäre es gerne gewesen, aber … Enrico ließ
niemanden nah genug an sich heran, um diesen Status zu erreichen. Da war immer
eine gewisse Distanz zwischen uns.“
„Auch beim Sex?“ Der Brillenträger war wirklich keck!
Ich musste grinsen. „Beim zwischenmenschlichen Spiel kannte dein Bruder
keine Grenzen, es war … heftig, wenn man das so sagen kann. Aber im
zwischenmenschlichen Bereich, also immer dann, wenn es privater und intimer
wurde, konnte dein Bruder ganz gut abblocken. Im Bett war er die größte Sau, im
Gespräch die keuscheste Nonne!“
Der Jüngling wirkte leicht verlegen. „Hätte ich jetzt gar nicht
gedacht. Bei mir ist es umgekehrt.“
Ich war erstaunt. „Wie meinst du das denn jetzt?“
„So, wie ich es gesagt habe: Bei Gesprächen gehe ich gerne aus mir
heraus, habe eine große Klappe, aber im Bett? Da bin ich eher einfach
gestrickt.“ Er gluckste. „Hab halt nicht so die Erfahrung.“
Ich winkte ab. „Erfahrungen sammelt man mit der Zeit, aber im
zwischenmenschlichen Bereich kommt es – meiner Ansicht nach – eher auf die
Grundeinstellung an: Ist man in der Lage, offen und ehrlich, also ohne
Hintergedanken, auf seinen Partner zuzugehen?“
„Und Enrico konnte das nicht?“ Er blickte mich verwundert an.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber das lag wahrscheinlich an seiner
Lebensgeschichte, an seinen Erfahrungen, die er gesammelt hat. Was meinst du,
wie er herumgeeiert ist, wenn es persönlicher wurde? Über Politik konnte man
mit ihm reden, ohne Probleme, stundenlang und mit wachsender Begeisterung! Aber
wehe, man hat über Familie gesprochen! Ich habe mehr als eine Version seiner
Geschichte von ihm gehört. Erst als ich ihm die Pistole auf die Brust setzte,
wurde er deutlicher, aber das …“ Ich blickte ihm tief in die Augen. „… aber das
war ja auch gelogen, wie ich heute durch dich erfahren habe. Ich nehme es ihm
noch nicht einmal übel, dass er mich angeflunkert hat, Enrico war halt so, aber
ich bin doch irgendwie auch enttäuscht.“
„Dass er dir nicht das gleiche Vertrauen entgegen gebracht hat, das du
ihm gezeigt hast? Meinst du das?“ Er rieb sich die Nase.
Ich nickte. „Stimmt. Grundlage jeder Beziehung, egal ob zwischen Mann
und Mann oder Mann und Frau oder Frau und Frau, ist – meiner Erfahrung nach –
die absolute Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber dem Partner: Das ist das A und
O einer guten Beziehung.“
„Stimmt auffallend! Aber ich glaube, so langsam müssten wir wieder
rein.“ Er grinste mich an.
Ich schaute mit Schrecken auf die Uhr. „Wo du Recht hast, hast du
Recht; wir haben noch knapp fünf Minuten, dann müssen wir wieder im Saal sein.“
„Dann lass uns mal.“ Er trat die Zigarette auf dem
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