Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
ihn zu fotografieren. Sie hatte noch nie Porträtaufnahmen gemacht, sich nie für Menschen, das menschliche Gesicht interessiert. Bis jetzt.
Was sie am liebsten mit ihren Fotos einfing, waren Dinge, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Stimmungen wie Einsamkeit. Innerer Aufruhr. Angst. Anfangs waren manchmal noch Menschen auf ihren Fotos zu sehen gewesen, aber nie mit dem Gesicht zur Kamera. Sie zeigte nicht gerne Gesichter, denn Gesichter waren trügerisch, konnten lügen. Ein Blick konnte aufgesetzt, einstudiert sein. Im übrigen waren Gesichter oft zu wenig subtil, verrieten zu viel.
Kindern wird von klein auf beigebracht zu lachen, wenn sie glücklich sein sollten, und das Gesicht zu verziehen, wenn sie traurig sind. Ein Lächeln wird da schnell als Mittel zum Zweck missbraucht. Ein Mann, der mit einem Strahlen im Gesicht herumläuft, wird misstrauisch beäugt: »Warum strahlt er so?«, denken die Leute. »Was steckt dahinter?« Und der Mann weiß, dass die Leute das denken würden, also strahlt er nicht... selbst wenn ihn der sonnige Tag so froh macht, dass er am liebsten jauchzen würde.
Aber Adams Gesicht fand Lea interessant. Der Ausdruck seiner Augen stimmte gewöhnlich mit seiner Miene und mit seiner Stimmung überein. Er verbarg weder seinen Unmut, noch seine Leidenschaft, wie Lea wusste.
Seine Nase war aristokratisch, schmal und gerade. Dunkle Brauen, ein kräftiges Kinn, volle Lippen und hohe Wangenknochen: ein starkes Gesicht. Von ihm würde sie eine Porträtaufnahme machen, ganz aus der Nähe, die Ränder aber im Dunkeln lassen. Sie würde die Beleuchtung auf den Bereich zwischen Oberlippe und Unterkante der Brauen konzentrieren. Und es müsste ein Schwarzweißfoto sein, weil dann die Schatten, die seine langen Wimpern warfen, besser zu sehen wären - ein guter Kontrast zu seinen kräftigen Gesichtsknochen. Und blau. Das Blau seiner Augen sollte die einzige Farbe in dem Bild sein.
»Nein, du bist nicht eitel, das weiß ich genau«, sagte Adam jetzt. Neugierig musterte er sie. Das sanfte Schaukeln des Zugs löste allmählich die Anspannung ihrer Muskeln. »Wie sind sie so? Deine Geister?«
Lea rutschte auf ihrem graublauen Sitz herum. Wieso wollte er das auf einmal wissen? War das immer noch ein Test? Spielte es überhaupt eine Rolle?
»Was willst du denn wissen?«
Er zuckte die Schultern, lehnte den Kopf zurück. Etwas an seiner Haltung störte sie fast - so locker, so entspannt, das passte nicht zu ihm. Adam war immer irgendwie in Alarmbereitschaft, selbst wenn er sich mal ein wenig entspannte.
»Wie kommt es, dass sie zu Geistern werden?«
Lea stieß den Atem aus. Das hatte sie sich auch als Erstes gefragt, sobald sie sich einmal mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass sie Geister hören konnte.
»Soweit ich weiß, bleibt eine Seele dann zurück, wenn sie hier noch etwas zu erledigen hat. Das ist dann das, was man ›Geist‹ oder ›Gespenst‹ nennt.«
»Hmm.« Adam hatte die Augen geschlossen, aber die Arme vor der Brust verschränkt. Das passte schon besser zu ihm. Jetzt schien er wieder auf alles vorbereitet zu sein.
»Und dein Liam? Was hat der noch hier zu suchen?«
Ihr Liam? Hatte sie sich verhört, oder hatte er den Namen ein wenig missgünstig ausgesprochen?
»Ich weiß nicht, was Liam noch hier zu suchen hat. Er sagt's mir nicht.«
»Wieso nicht?«
»Na, weil er noch hierbleiben will. Wenn das, was er hier noch zu erledigen hat, getan ist, hat er doch keinen Grund mehr zu bleiben.«
Sie schwiegen einen Moment. Dann riss Adam plötzlich die Augen auf.
»Ach, das ist es, was du tust, Madame Foulard! Du findest Geister und schickst sie eine Ebene höher.«
Lea schüttelte heftig den Kopf. »Ich würde keine Seele zwingen, diese Welt endgültig zu verlassen! Ich will nur helfen. Manche verstehen nicht, was mit ihnen passiert ist, weißt du. Sie wollen nicht bleiben, wissen aber auch nicht, wie sie von hier weg können. Andere dagegen wissen es, körinen ihr Problem aber nicht selbst lösen, weil ihnen vielleicht die Kraft dazu fehlt, oder ...«
»Die Kraft? Was meinst du? Stimmt das mit den Türen, die von selbst aufgehen, dem Tische-Rattern? Können sie wirklich Dinge bewegen?«
Adam wirkte wie ein aufgeregter kleiner Junge, und Leas Irritation verflog. Unter der beherrschten Fassade des Lord Adam Murray steckte ein sensibler Mann, mit einer großen Lust am Leben. Und Lea mochte Menschen, die Lust am Leben hatten. Es gab überraschend wenige davon.
»Manche
Weitere Kostenlose Bücher