Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
schon, ja. Aber das kostet eine Menge Energie.
Ich selbst kenne nur Mrs. McDonald, die so was kann.«
Lea lächelte über Adams verwirrten Gesichtsausdruck.
»Sie fasst die Leute gerne an, wenn sie ihr auf die Nerven gehen; sie will ihnen einen Schrecken einjagen, weil sie sich mal wieder auf ihre Lieblingsbank gesetzt haben oder schlecht über die Toten auf dem Greyfriars Friedhof reden.«
»Scheint ja eine interessante Person zu sein«, bemerkte Adam lächelnd. Er lehnte sich vor und schaute sie an ... ja, wie? Sie konnte es nicht genau beschreiben. »Wie machst du das? Wie kannst du ihre Stimmen von denen der Lebenden unterscheiden? Wird man dabei nicht verrückt?«
Ja, das konnte man leicht werden. Vor allem anfangs war es nicht leicht für sie gewesen. Sie war allein und unter starken Schmerzen in einem Krankenhaus aufgewacht, ein weißer, kahler Raum mit grellen Leuchtstoffröhren an der Decke. Ein Arzt war hereingekommen, ein netter älterer Herr, ebenfalls in einem weißen Kittel. Das einzig Farbige an ihm war eine rot-rosa-gestreifte Krawatte gewesen, an der er immer herumgezupft hatte, wie um die Aufmerksamkeit auf diese kleine Auffälligkeit zu richten.
»Sie haben großes Glück gehabt!«, hatte er gesagt. »Ein Riesenglück, junge Frau, dass Sie überhaupt noch am Leben sind!«
Im Rückblick musste sie ihm recht geben, damals jedoch hatte sie nicht das Gefühl gehabt, Glück gehabt zu haben, ganz im Gegenteil. Sie hörte auf einmal Stimmen, auch wenn niemand mit ihr im Zimmer war. Und dann war der Arzt ein zweites Mal gekommen, diesmal in Begleitung einer mürrischen Psychotherapeutin, und hatte ihr mitgeteilt, dass die Schäden am Uterus zu groß seien und sie keine Kinder mehr bekommen könne. Drei Tage später war dann ihr Verlobter reingeplatzt und hatte sie angeschrien. Warum er das alles erst jetzt erfahre? Hätte sie ihm nicht eher Bescheid sagen können? Eine Heirat käme jetzt, wo sie keine Kinder mehr haben könne, natürlich nicht mehr in Frage.
Ja, es war schwer gewesen, da nicht verrückt zu werden.
Gut möglich, dass sie den Verstand verloren hätte, wenn Mr. Thomson und Liam nicht für sie da gewesen wären.
Sie hatten ihr beigestanden, hatten ihr Gesellschaft geleistet, wenn ihre Einsamkeit und die Stille sie zu erdrücken drohten. Sie hatten bei der Gerichtsverhandlung neben ihr gesessen und ihr Mut zugesprochen, als sie gegen ihren Angreifer aussagen musste. Sie hatten ihrem Leben wieder einen Sinn gegeben.
»Ich hatte Hilfe«, sagte Lea und zuckte mit den Schultern, »und wieder eine Aufgabe im Leben.«
»Den Geistern zu helfen, diese Welt zu verlassen?«, fragte Adam. Als Lea nickte, lehnte er sich zurück. »Ja, es ist wichtig, eine Aufgabe zu haben. Einen Sinn im Leben.
Viele von uns nehmen sich nach dreihundert Jahren das Leben, weil sie keinen Sinn mehr sehen.«
Davon hatte Liam ihr schon erzählt: von der tiefen Melancholie, die viele Vampire ab einem gewissen Alter ergriff. Lea hatte selbst mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt, hatte sich nicht vorstellen können, dass das Leben je wieder besser werden würde - ein ebenso häufiges Problem unter Menschen wie unter Vampiren, wie es schien: die Unfähigkeit, über den momentanen Gefühlszustand hinauszublicken. Aber das Leben änderte sich ständig.
Tage, die einem in dem einen Moment fürchterlich erschienen, sahen im nächsten Augenblick schon ganz anders aus. Es gab keine »schlechten« und »guten« Tage, das spielte sich alles nur im Kopf ab. Als David sie verließ, hatte sie geglaubt, dass alles zu Ende wäre. Und jetzt, wenn sie zurückdachte, war sie froh und dankbar, den Mistkerl losgeworden zu sein.
Lea wollte Adam so vieles fragen. Wie alt war er? Was bedeutete es, ein Friedenshüter zu sein? Was tat er sonst?
Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Kugeln für sie einzufangen, sie anzubrüllen oder hinter irgendwelchen Formeln herzujagen?
Sie überlegte gerade, was sie zuerst fragen sollte, als plötzlich die Abteiltüre aufging und eine Frau mit einem Getränkewagen den Kopf hereinsteckte.
»Wie wär's mit einem Kaffee?«
Lea wollte Nein sagen, damit die Frau schnell wieder verschwand, doch da klingelte Adams Handy und machte jede Hoffnung auf eine Fortsetzung ihres Gesprächs zunichte.
»Hallo? Ja, McLeod ist dran.«
Lea lächelte die junge Frau an, die hoffnungsvoll einen Plastikbecher hochhielt.
»Ja, ein Kaffee wäre schön, danke.«
19. Kapitel
Der Zug kam kreischend an dem
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