Unsterbliche Bande
Es war möglich, dass der Dieb auch über die Nebenwirkungen Bescheid wusste. Und es genau darauf abgesehen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum, aber vielleicht war das der Grund für Cullens abwesenden Gesichtsausdruck gewesen. Vielleicht hatte er darüber nachgedacht.
Nach einer Pause fügte Lily scheinbar zusammenhanglos hinzu: »Abe bedeutet ihm viel.«
Cullen sah sie seufzend an. »Ja, das stimmt.«
Wenn es um Verrat ging, gab es für Lupi nur Schwarz oder Weiß. Die Tradition verlangte, dass es nur eine mögliche Strafe gab: den Tod. Und dass der Lu Nuncio sie vollstreckte.
9
Rule stand in der Mitte der Versammlungswiese zur Rechten seines Rho unter leuchtenden magischen Lichtern, die das Funkeln der Sterne über ihnen verdeckten. Sein Herz schlug langsam, weil er es durch seinen Willen dazu brachte … doch es fiel ihm schwer.
Sein Rho war wütend. Der scharfe Geruch dieser Wut haftete an ihm. Rule spürte sie mit jedem Pulsieren der Clanmacht – einem harten Pulsieren, stetig, aber eine Spur zu schnell. Nicht im Einklang mit dem Rhythmus seines eigenen Herzschlags. Das war etwas, das nur ein Rho konnte: die Macht nutzen, um seinen Clan in einen gemeinsamen Rhythmus zu bringen. Meistens wendeten die Rho sie an, um ein Clanmitglied zu beruhigen, das drohte, die Beherrschung zu verlieren. Rule hatte es selbst auch schon getan. Dazu musste man die Clanmacht nur ganz leicht einsetzen, und nicht einmal bei jedem einzeln. Kontrolliere den eigenen Herzschlag, lass die Macht fließen, und der Herzschlag der anderen wird sich auf deinen eigenen einstimmen. Schnell, wenn du sie antreiben willst. Langsam, wenn du sie beruhigen willst. Rule hatte noch nie versucht, über so viele auf einmal Kontrolle auszuüben, wie Isen es schon viele Male getan hatte. Rule wusste, wie es sich auf der anderen Seite anfühlte.
Er müsste es eigentlich auch jetzt fühlen. So nah bei seinem Vater, seinem Rho, während Isen die Clanmacht wirken ließ, dürfte es ihm eigentlich auch mit noch so viel Übung unmöglich sein, zu verhindern, dass sein Herzschlag in diesen fordernden Takt einfiel. Aber auch er trug eine Clanmacht in sich. Und ein Leidolf folgte nicht dem Takt eines Nokolai.
Ihm war schwindelig. Er fühlte sich orientierungslos. Er war ein Nokolai.
Und er war ein Leidolf.
Das wusste er, seitdem ihm die Macht der Leidolf aufgezwungen worden war. Wusste, mit dem Kopf zumindest, dass das bisschen Leidolf-Blut, das er von einer Urgroßmutter geerbt hatte, es Victor ermöglicht hatte, ihm die Macht aufzuzwingen. Damit wollte Victor ihn zerstören. Doch es war ihm nicht gelungen.
Nun stand er neben seinem Rho, umgeben von seinem Clan – den Nokolai –, und sein Herz schlug nicht im Takt mit ihren Herzen. Es schlug für die Leidolf. Er hielt es in einem langsamen, steten Rhythmus, und das war schwer, aber nicht so schwer, wie es hätte sein sollen.
Er war ein Leidolf. Das spürte er nun in seinem Herzen. Buchstäblich. Er war ein Leidolf, und die Nokolai hatten keine Macht über ihn, es sei denn, er ließ es zu.
Isen spielte ein gefährliches Spiel heute Nacht.
»Bill Peterson«, rief eine Stimme von links.
»Im Dienst«, sagte Pete bestimmt. »Entschuldigt.«
Rules Nasenlöcher blähten sich, öffneten sich der Nacht. Die Luft war weich und kühl und voller Gerüche – Staub und Haut, Salbei und Gras, Angst und Wut und ein Hauch Menstruationsblut von einer Frau in der Nähe. Aber vor allem lag der konzentrierte Duft der Lupi darin.
Nokolai roch er am stärksten, den Geruch seines Clans, der selbst jetzt noch beruhigend auf ihn wirkte. Aber ebenso Leidolf, ein Geruch, in dem so viele derselben Töne lagen, die sich aber doch zu einer anderen Melodie zusammenfügten. Auch dieser Geruch besänftigte ihn, obwohl sich ihm früher die Nackenhaare gesträubt hätten. Dann noch Laban. Rochen ganz schön nach Moschus, diese Laban. Und Vochi. Die ruhigen, harmlosen Vochi. Leidolf, Laban, Vochi … sie alle hatten sich nicht weit entfernt von der Mitte der Wiese in Grüppchen zusammengefunden.
Das Clangut war in letzter Zeit ziemlich dicht bevölkert.
»Josh Krugman«, rief eine andere Stimme. »Und Celia Thompson.«
»Im Dienst«, erwiderte Pete laut und zur gleichen Zeit wie die Frau, die neben Cullen stand und dasselbe sagte. »Entschuldigt«, sagten beide, einer nach dem anderen.
In normalen Zeiten lebten die meisten Lupi nicht auf den Gütern ihrer Clans. In der Nähe, das wohl, wenn es möglich war, aber
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