Unsterbliche Bande
gewesen und würde vielleicht jetzt nicht vermisst.
Sie hatte es nicht wissen wollen.
Grimmig gestand sich Beth die Wahrheit ein. Sie hatte jedes Gespräch über die schlimmen Dinge, die letztes Jahr passiert waren, vermieden. Sie hatte nicht wissen wollen, wie bedrohlich die Lage für ihre Schwester und alle um sie herum wirklich gewesen war. Wie gefährlich es mittlerweile war, ein Lupus zu sein oder eine magische Gabe zu haben. Wie viele Menschen sie schlicht und einfach hassten. Wie viel Unsinn einem dort draußen als Fakten verkauft wurden, und wie viele Menschen es tatsächlich glaubten. Sie hatte wirklich nicht wissen wollen, dass eine Große Alte für die Rolle des gemeinsten megalomanischen Ich-übernehme-die-Weltherrschaft-Bösewichts vorsprach. Sie hatte es nicht hören wollen und deswegen Lily auch nicht die Fragen gestellt, die ihr auf der Seele brannten. Nachdem sie von Harlowe mit einem Zauber belegt und von einer Gang gefangen gehalten und beinahe getötet worden war, hatte sie einfach nur ihr Leben zurückhaben und ihre eigenen Entscheidungen treffen wollen, ohne wie eine schlecht getroffene Billardkugel hilflos hin und her zu schießen.
Nein. Lily war diese Billardkugel, der Spielball. Beth war nur eine von den vielen anderen bunten Kugeln, die auf dem Billardtisch herumrollten und darauf hofften, eine sichere Tasche zu finden, um sich darin zu verstecken. Das hatte San Francisco sein sollen – ihre sichere Tasche.
Beth schnaubte bitter.
Sie hatte den Vogel Strauß gespielt, das musste sie sich selbst eingestehen. Trotzdem hätte Lily ihr viel mehr sagen müssen, als sie es getan hatte. Jetzt war Beth sauer. Und sie hatte Angst. Angst um Sean und um sich selbst, und es schien nichts zu geben, was sie tun konnte.
Beth schob den Stuhl vom Schreibtisch zurück und schnappte sich ihre Turnschuhe. »Murray!«
Er erschien in der Tür. »Yo.«
Sie warf einen verärgerten Blick zu ihm hoch, was vermutlich mehr mit seiner Anwesenheit als mit seiner Wortwahl zu tun hatte, aber trotzdem: Dass er da war, machte sie unleidlich. »Niemand sagt tatsächlich ›yo‹.«
Murray hatte so hübsche Augen. Sie erinnerten sie an den halb verhungerten Welpen, den sie in ihr Zimmer geschmuggelt hatte, als sie acht war. Sie hatte ihn Samson genannt. Lily hatte sie nicht verpetzt. Selbst Susan hatte den Mund gehalten, doch einen Welpen konnte man unmöglich längere Zeit verstecken, ohne dass es jemand bemerkte, und ihre Mutter fand, dass Hunde schmutzig und voller Bazillen seien. Als Samsons neue Besitzer kamen, um ihn abzuholen, hatte Beth lange geweint. »Bist du ein Möchtegernsoldat oder so?«
»Ich war sechs Jahre lang bei den Rangern. Gehen wir irgendwohin? Es ist nicht Zeit für deinen Bojuka-Kurs.«
Was er wusste, weil er sie zu diesem verdammten Kurs begleitet hatte. »Ich gehe nicht zum Bojuka.« Nicht, solange Sean vermisst wurde. Es täte zu sehr weh. Sie zerrte an einem Schuh. »Ich wusste gar nicht, dass Lupi zum Militär dürfen.«
Seine Mundwinkel hoben sich. »Legal, meinst du? Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aber es hat immer welche von uns gegeben, die ihm trotzdem beigetreten sind, vor allem während des Zweiten Weltkriegs. Heute sind es nicht mehr so viele, aber immer noch ein paar.«
»Wie habt ihr das geschafft? Ich meine, ihr müsst euch nicht unbedingt bei Vollmond wandeln, aber trotzdem, das muss doch schwer gewesen sein.«
»Es kann schwer sein. Man muss es aushalten, weit weg vom Clan zu leben und sich immer im Griff zu haben. Es geht nicht nur darum, zu verhindern, dass sich der Wolf zeigt, wenn es gerade nicht passt. Man muss auch in der Lage sein, beinahe pausenlos menschliche Reaktionen und Stärke vorzutäuschen, und das kann nicht jeder.«
»Das war, bevor man offen als Lupi leben konnte?«
»Manche würden sagen, dass man es jetzt immer noch nicht kann«, sagte er trocken. »Ich frage noch einmal: Gehen wir irgendwohin?«
»Wir gehen raus.« Sie schnürte den zweiten Schuh und stand auf. »Vielleicht holen wir uns etwas zum Abendessen. Magst du Phat Thai? Es gibt hier einen Laden sechs Blocks entfernt, der unglaubliches Phat Thai macht.«
»Wir könnten es bestellen.«
»Du kannst tun, was du willst. Ich muss hier raus. Ich muss mich bewegen.« Und sie musste überlegen, was sie ihren Mitbewohnerinnen erzählen sollte. Susan kam nicht vor einer Stunde zurück, aber Deirdre konnte jeden Augenblick auftauchen. Deirdre wusste nur, dass Sean vermisst
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