Unsterbliche Küsse
sie es. Mit der Kraft ihres ganzen Wesens und unter Aufbietung aller Geistesreserven widmete sie sich dem Mann hinter der Augenklappe. Sie erblickte eine knorrige Stelle verwachsenen Fleisches, die sie als seine Narbe erkannte, dann einen Wirbel ungestalter Schatten und Formen, in denen sie sich selbst, wie eine Andeutung von Glück, erblickte. Und sie war sehend geworden. »Karo-Zehn.«
»Behalte den Fokus bei.« Ob Christopher das wirklich ausgesprochen oder nur gedacht hatte, wusste sie längst nicht mehr. Er zog eine weitere Karte.
»Kreuz-Sieben. Herz-König. Pik-Zwei. Er zog eine Karte nach der anderen in schneller Folge und sie hatte jede deutlich vor Augen.
»Jetzt mach die Augen auf.«
Er hielt die Herz-Fünf in der Hand. Das war ihr im selben Moment klar, in dem er die Karte gezogen hatte. Dann war alles weg. Sie war unverändert hoch konzentriert, vielleicht sogar noch mehr, starrte aber in eine dunkle Leerstelle. Eine Sekunde lang war ihr Blick wieder frei, und sie sah die fünf roten Augen so klar wie die Sterne am Himmel, ehe sie wieder mit dem Nichts, einer undurchdringlichen Mauer konfrontiert war. »Ich schließe dich aus meiner Gedankenwelt aus. Du wirst das auch lernen.«
»Und zwar sofort.« Dieses Mal zog Justin die Karten, während sie sich konzentrierte und zusah, wie er seine Gedankenwelt öffnete und verschloss. Bei Christopher war es einfacher gewesen. Und der Versuch mit Tom war sogar noch schwieriger.
»Warum?«
»Die Blutsbande mit Kit sind sehr viel enger«, sagte Justin.
»Jetzt versuch du es mal.« Christopher drückte ihre Hand. »Du musst ausprobieren, was funktioniert. Ich stelle mir vor, dass eine Tür zugeknallt wird. Tom lässt einen Bühnenvorhang fallen, und Justin errichtet in bester Römermanier eine Mauer. Such dir ein passendes Bild und schließ mich aus deiner Gedankenwelt aus.«
Ihr fielen Grans Leinenvorhänge ein, die sie als Schutz vor der heißen Südstaatensonne immer zugezogen hatte, und sie lächelte. Langsam, die ganze Kraft ihrer Gedanken hinter sich, zog sie den Vorhang zu. Mit jeder Umdrehung der hölzernen Laufrollen schloss sie ihre Gedankenwelt Stück für Stück ab, bis sie eingeschlossen und in Sicherheit war. Sie hätte Freudensprünge gemacht, wenn sie das Korsett nicht daran gehindert hätte.
»Der Tag rückt langsam näher«, sagte Christopher. Sie wusste es. Sie roch die herannahende Dämmerung.
»Ruh dich aus. Du bist hier in Sicherheit«, beruhigte sie Justin.
»Dann bis zum Sonnenuntergang«, sagte Tom.
Sie ließen sie alleine mit Christopher zurück.
»Ich bleib bei dir, Liebes«, versprach er. »Du hast nichts zu befürchten. Justin hat alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen.« Er ging ans Fenster, zog ein dickes schwarzes Rollo herunter und schloss die Chintzvorhänge. »Die Müdigkeit befällt dich urplötzlich. Mit der Zeit merkst du es und kannst dich darauf einstellen.« Er rückte ihr Kissen zurecht und schob eine Matte unter die Matratze; dann spürte sie, wie das Bett nachgab, als er sich neben sie setzte. Seine kühlen Lippen berührten ihre Stirn. »Schlaf jetzt, Dixie. Bis heute Abend.«
Sie spürte seine Nähe, roch die Rosen am Bett, hörte das Rasseln eines Geschirrwagens und sank in den friedvollen und tiefen Schlaf der Untoten.
Als sie erwachte, konnte sie die herannahende Nacht fühlen. Christopher war nicht mehr neben ihr, und sie hörte das Kreischen einer Elektrosäge.
15
»Was hast du vor?«
»Keine Sorge«, erwiderte Justin, »Wir holen dich hier raus.«
»Wohin? Wo ist Christopher?«
»Er fährt den Wagen vor; ist in einer Minute da. Aber zuerst befreien wir dich von diesem Korsett.«
Sie setzte sich halb auf. »Ich habe es doch nur zwei Tage getragen.« Nicht einmal.
»Du wirst auch keines mehr brauchen. Solltest du dir in Zukunft was brechen, genügen eine Fixierung mit Heftpflaster und ein Tag Ruhe. Dann ist alles verheilt.«
»An dieses Dasein als Wonder Woman werde ich mich noch gewöhnen müssen.«
Er war schockiert. »Bitte, Dixie, wir sind keine Comicfiguren. Schlimm genug, dass wir durch die Unterhaltungsliteratur geistern.« Er legte eine gepolsterte Stütze auf die Bettkante. »Leg deinen Arm hier drauf.«
Vor ihr stand ein Vampir-Chirurg mit einer Säge in der Hand, und sie hatte noch nicht einmal gefrühstückt. Würde überhaupt nie wieder frühstücken. Letzterer Gedanke ging in ohrenbetäubendem Sirren und einer weißen Staubwolke unter.
»Geschafft.« Mit einer Art Mini-Brecheisen
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