Unsterbliche Küsse
Löwen. Er sollte sie nicht gehen lassen – oder vielleicht doch? Ja, Justin hatte recht. Es war eine Art Feuertaufe für sie. Wenn er sie liebte, müsste er einfach die Zähne zusammenbeißen und sie ziehen lassen. »Ich bin ganz nah bei dir. Geh du ruhig voraus. Wir folgen dir.«
* * *
Die Tür ging auf. »Bist du da, Dixie?« Emilys Herz raste und ihre Haut roch nach Angstschweiß. Warum auch nicht? Sie befand sich im Haus eines mehrfachen Mörders.
»Hier.«
»Komm schnell rein. Ich kann hier nicht die ganze Nacht stehen. Er glaubt, ich bin auf dem Klo.«
Mehr war nicht vonnöten. Eine simple Einladung und ein Schritt über die Schwelle. »Geh jetzt nach Hause, Emily. Lauf!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will dabei sein, wenn er die Quittung kriegt.«
Und vor drei Sekunden hatte sie noch geglaubt, alles würde glattgehen. Sie packte Emily an der Schulter. »Geh jetzt, Emily.« Sie spürte, wie ihr Wille nachgab und ihr Widerstand dahinschmolz.
»Okay.«
So viel Macht war unheimlich. Als Emily durch die Tür ging, griff Dixie noch schnell auf ihr Bewusstsein zu und kassierte die Erinnerung an die letzte halbe Stunde. Eine benommene Emily stolperte den Pfad entlang. Die anderen würden notfalls darauf achten, dass sie sicher wegkäme.
Es dauerte einen Moment, bis sie sich zurechtfand. In der vorderen Diele waren drei verschlossene Türen. Wo hockte der Bursche? Sie überlegte kurz und wusste Bescheid. Hinter der nächsten Tür roch sie Menschenblut.
Er saß mit dem Rücken zur Tür zurückgelehnt auf seinem Schreibtischstuhl wie ein Kaiser auf einem Drehthron. »Wo bleibst du?« Er sah sich nicht einmal um. »Mach schon, Emily, auf die Knie!«
»Hallo, Sebastian.«
Er drehte sich um. Blaue Flecken hatte er keine mehr, aber das Gesicht war bis zum Hals mit einem Zickzack von Narben bedeckt. Er starrte sie fassungslos an und presste unter Mühen nur eine Silbe hervor: »Du!«
»Ja, ich«, bestätigte Dixie, um ihn extra zu ärgern.
Noch ehe er etwas sagen konnte, packte sie ihn an den Schultern. »Nicht aufstehen.«
Er zuckte. »Was zum Teufel willst du? Und wie …?« Sein Gesicht hatte die Farbe von Sauermilch angenommen. »Du bist tot. Diese Krankenschwester hat es ausdrücklich gesagt.«
»Das fällt in den Bereich des staatlichen Gesundheitssystems.«
Er zwinkerte heftig mit den Augen, als wollte er sich Klarheit verschaffen. »Ich habe dich doch fallen sehen.« Sicher mit einer gehörigen Portion Schadenfreude. Sie drehte ihn auf dem Stuhl herum und zerrte seine Hände nach hinten auf den Rücken. »Was soll das?«
»Ich will dich nur ruhigstellen.« Im Nu hatte sie eine der Strumpfhosen am Stuhl befestigt und um seine Handgelenke geschnürt. »Passt doch wunderbar.«
Er machte ein paar fiese Bemerkungen über ihre Qualitäten als Frau. »Ich bitte dich. Spricht man so mit seinen Klienten? Schließlich bekommst du eine Menge Kohle von mir.«
»Kohle? Von dir? Du hast mich ein kleines Vermögen gekostet.«
»Auf das Thema kommen wir noch zu sprechen.«
Er sagte kein Wort, bekam aber immer größere Stielaugen, als sie die andere Strumpfhose in zwei Hälften riss. Und als sie ihm damit nacheinander die Beine am Stuhl fixierte, wand und wehrte er sich wie verrückt und schimpfte dabei auf ihren Vater.
»Fertig! Dann können wir ja zur Sache kommen.« Ihr Blick fiel auf ein tragbares Tonbandgerät auf dem Schreibtisch, aber ihr war schnell klar, dass sie es nicht brauchen würde; sie zog einen Stuhl heran und nahm ihm gegenüber Platz.
»Ich habe mich etwas genauer mit meinen lieben Vorfahren beschäftigt und bin dabei auf interessante Details gestoßen. Sie haben Tagebuch geführt. Wusstest du das?«
»Tagebücher?«, blaffte er. »Die haben vor Gericht keinen Wert.«
Sie ignorierte ihn. »Sehr ausführlich sogar. Buch geführt haben sie auch. Ganze Aktenordner voll. Grans Schwestern waren abscheuliche alte Biester, und ihre Verbrechen haben sich wirklich gelohnt, für sie und für dich. Deine Akte ist mehrere Zentimeter dick.«
»Alles aus der Luft gegriffen. Altweiberfantasien.« Er schaute sie finster an.
Sie schmunzelte und musste daran denken, wie sie früher oft schon ein albernes Grinsen ihrer Schüler auf die Palme gebracht hatte. »Hm, hm.« Sie schüttelte den Kopf. »Über dich liegt ein dickes Dossier vor, fünfundzwanzig Seiten, auf denen so ziemlich alles steht, angefangen mit gekauften Prüfungen zu Schulzeiten bis hin zu Fotoaufträgen von meinen Tanten. Sie
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