Unsterbliche Sehnsucht
schon beim nächsten Angriff des Abtrünnigen riss Zer die Klinge nach oben und schlitzte mit einem tödlichen Streich den Hals seines Gegners auf. Blut spritzte. Wie der überraschte Gesichtsausdruck des Abtrünnigen verriet, hatte der Mistkerl nicht damit gerechnet, den Kürzeren zu ziehen.
»Na, jetzt hast du es kapiert.«
Die Feuerklinge fiel klirrend zu Boden. Keros kam herübergeeilt und hob sie auf. »Könnte uns noch einmal nützlich sein«, sagte er mit ungerührtem Tonfall, als hätte Zer gerade eben nur kurz den Müll rausgebracht.
Ja, die Klinge wäre hilfreich gewesen, doch das Feuer begann bereits zu flackern und wurde kleiner. Es erstarb, als Zer schließlich auf das zusammengekrümmte Häuflein von Abtrünnigem zutrat und das beendete, was er begonnen hatte, indem er den Kopf des einstigen Bruders vom Hals abtrennte. Er war zu jung, seine Wandlung noch nicht lange genug her, als dass der Kerl gewusst hätte, wie er seine neu gewonnene Kraft einsetzen, geschweige denn mit der Feuerklinge umgehen musste. Nun konnte man seine Überreste tatsächlich nur noch als Müll bezeichnen.
Zer drehte die Leiche auf den Bauch und fixierte sie mit einem Fuß. Seinen Instinkten folgend und bevor sich sein Gewissen meldete, fuhr er mit der Schneide seines Messers am Rücken des toten Manns entlang, sodass der Stoff seiner Kleidung zu beiden Seiten auseinanderglitt. Dunkle Haut und einige wenige Narben, die sich der Abtrünnige beim Kämpfen zugezogen hatte, wurden sichtbar, eingerahmt von dem zerschnittenen Stoff. Mit anderen Worten: Zer bot sich kein überraschender Anblick. Nachdem die himmlischen Herrschaften ihre Flügel und ihren Platz im Himmel eingebüßt hatten, verheilten auch ihre Wunden nicht mehr so einfach. Und dennoch, irgendetwas stimmte hier nicht.
»Licht!«, blaffte Zer, während er weiter auf den glatten dunklen Rücken hinabstarrte. Aber er konnte sie
nirgends
entdecken, die Krater aus Narbengewebe, Michaels kleines Abschiedsgeschenk und somit ganz besonderes Andenken. Wo der Beweis für ein früheres Paar Flügel sichtbar sein
sollte
, prangte nur ein tattooähnliches Mal. Zer konnte regelrecht dabei zusehen, wie die roten Kanten langsam verblassten. Der Gestank von Magie erfüllte die Luft.
»Mit wem bist du einen Deal eingegangen?« Er murmelte einen Fluch, als er sah, dass die Frau hinter dem Abtrünnigen auf dem Boden lag, achtlos weggeworfen wie Müll.
Unwillkürlich musste er an seine letzte Nacht im Himmel denken. Damals hatte er en détail erfahren, zu was Erzengel fähig waren, was sie bisweilen mit dem Körper einer Frau anstellten. Als Esrene ihren Angreifer – einen, der über fünfzig Kilo mehr wog als sie – abgewehrt hatte, waren ihr von diesem die Beine gebrochen worden, damit sie nicht weglaufen konnte. Danach hatte er mit ihr gespielt. Zer versuchte, die Erinnerung an diese Geschehnisse zu verdrängen. Er wollte nicht daran zurückdenken. Nicht schon wieder.
Der Mistkerl hatte das weibliche Mitglied der Herrschaften ausgenommen wie Wild, seine Klinge in ihren weichen, zarten Bauch gestoßen und skrupellos nach oben gezogen, sodass Esrenes Brust aufgeklafft war – ähnlich wie er sie zuvor weiter unten mit seinem körpereigenen Dolch aufgerissen hatte. Zer musste sich eingestehen, dass seine Schwester letztlich nur ein Katalysator gewesen war. Michael hatte sie, ohne zu zögern, geopfert, weil ihm klar gewesen war, dass ihr Tod die Herrschaften in Aufruhr versetzen würde, und Zer hatte den Köder geschluckt und einen Aufstand angezettelt.
Einen, aus dem er als Verlierer hervorgegangen war.
Hinter ihm tauchte Vkhin wieder auf und telefonierte, um einen Reinigungstrupp zu bestellen. Zwar hätten sie die Leiche auch einfach dort liegen lassen können, doch Zer besaß ein Gespür dafür, wann die Menschen, die in seinem Zuständigkeitsbereich lebten, an ihre Grenzen stießen. In diesem Fall würde totale Panik ausbrechen, und das konnte nicht gut sein.
Keiner seiner Leute war gestorben oder verletzt worden – so gesehen eine gute Nacht.
Doch die Leiche, die zu ihren Füßen lag, konfrontierte sie mit einer bitteren Wahrheit. Dieser Abtrünnige hätte ebenso einer von ihnen sein können. Und wenn sie nicht bald ihre Seelenverwandten fanden, würde sie irgendwann dasselbe Schicksal ereilen. Der Typ vor ihnen hatte einfach nur schneller aufgegeben und war dadurch auch schneller abgerutscht.
Auch Zer stand kurz vorm Abgrund, das wussten sie alle. Er sah Vkhin an.
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