Unsterbliches Verlangen
dem Kopf. Zwanzig war nahe genug an einundzwanzig, und seine Mutter hatte jede Menge Zeit in Orchard House verbracht, um bei den Underwood-Damen zu lernen. Was hatte sie eigentlich dort gelernt?
Und wenn es nicht stimmte, was sein Onkel gesagt hatte? Wenn sie gar nicht weggelaufen war aus dem Dorf mit einem namenlosen Unbekannten? Wenn sie das Dorf nie verlassen hatte? Der Gedanke an die Antwort auf all diese Fragen ließ ihn erschaudern und wütend werden zugleich.
Das hartnäckige Klingeln des Telefons führte ihn ins Haus zurück. Anscheinend waren die alten Gartenzangen und Scheren, die er im Schuppen gefunden und zum Schleifen gebracht hatte, schon fertig. Ehe er hier verrückt würde, könnte er sie genauso gut auch abholen. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm nicht schaden und vielleicht sogar seinen Gedanken auf die Sprünge helfen.
Er kam gerade aus der Eisenwarenhandlung, die Zangen und Scheren unter den Arm geklemmt, und achtete nicht sonderlich auf den Weg, da wäre er beinahe mit Judy Abbott zusammengestoßen.
»Sie schon wieder!«, begrüßte sie ihn und nahm ihre Einkaufstasche in die andere Hand.
»Äh … hallo.« Sie war wunderhübsch und hatte so eine erfrischend natürliche Art.
»Großeinkauf?«, fragte sie, den Blick auf das Paket unter seinem Arm gerichtet.
»Nein, eigentlich nicht.« Er war im Begriff, alles zu vermasseln und …
»Die Sachen hab ich vom Schleifen abgeholt.« Seine Brust war wie eingeschnürt, und das Atmen tat ihm weh. Mann, das war ein Witz, aber wenn sie lächelte und diese Grübchen sichtbar wurden … Mist, er hätte schwören können, dass er rot wurde.
»Und? Kann man den Laden empfehlen? Ich hab da ein paar Scheren, mit denen Dad Papier geschnitten hat und die jetzt ruiniert sind. Vielleicht sollte ich sie hierherbringen.«
»Er ist sehr gut! Sie können die Scheren guten Gewissens hier abgeben. Die schleifen sie Ihnen zurecht, dass es eine wahre Freude ist. Aber an Ihrer Stelle würde ich das lieber bald machen, denn …« Verdammt! Er laberte rum wie ein Vollidiot.
»Na dann mach ich das doch.« Sie ging einfach neben ihm her, als er seine Schritte die High Street hinab lenkte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie nach kurzer Zeit.
Er sollte »bestens« sagen und weitergehen. Hätte er vielleicht auch gemacht, wenn er sie nicht angesehen und bemerkt hätte, dass ihre Augen den gleichen Ton hatten wie die seiner Mutter: ein tiefes, leuchtendes Blau. Ihr Blick war einfühlsam und freundlich, sodass er nicht umhin konnte, sich ihr anzuvertrauen.
»Nein«, antwortete er. »Mein Leben ist ein einziges Chaos.«
Sie nickte verständnisvoll. »Würde ein Drink vielleicht helfen? Ich lade Sie ein. Bis zum Blue Anchor ist es nur ein Katzensprung.«
»Nein!« Mist, das war unhöflich, aber … »Ich trinke keinen Alkohol.«
»Gut für Sie! Ich leider schon, und viel zu viel. Wie wär’s dann mit dem Copper Kettle? «
Sie überquerten die Straße und betraten die kleine, holzgetäfelte und über und über mit Pferdeamuletten verzierte Teestube. Auf die grauhaarige Kellnerin, die sie an einen winzig kleinen Zweiertisch neben der Tür setzen wollte, hörte Jude erst gar nicht und steuerte stattdessen sofort einen großen Tisch in der Ecke an. »Wir brauchen Platz«, erklärte sie. »Für die vielen Einkäufe.«
Sie packte ihre Berge von Tüten auf einen freien Stuhl und schnappte sich die Speisekarte. »Wollen Sie auch etwas essen?«, fragte sie.
Er dachte nach. Seit seinen Cornflakes zum Frühstück war schon eine Ewigkeit vergangen. »Ja, warum nicht?«
»Sie haben die Wahl zwischen pochiertem Ei auf Toast, Bohnen auf Toast oder Käse auf Toast. Oder einem gekochten Ei. Sicher auch mit Toast.«
Wie das Frühstück, das seine Mutter für ihn zu machen pflegte: eine Scheibe Toast, in fingerbreite Streifen geschnitten, zum Eintunken in ein weichgekochtes Ei. Das ertrug er nicht. Jedenfalls nicht jetzt. »Wie wär’s mit Käse auf Toast?«
»Ich tendiere eher zu den Bohnen«, sagte Judy. »So’n richtiger Kindergarten- oder Schulfraß, stimmt’s?«
Der Tee wurde in einer großen Kanne und mit dem Versprechen serviert, das Essen würde sofort folgen. Judy rührte den Pott um und stellte die Gedecke zusammen. »Milch und Zucker?«
»Beides bitte, ja.«
Sie goss ein und fügte Milch und das eine von ihm gewünschte Stück Zucker hinzu. Sie waren wie zwei Puppen an straff gespannten Fäden, er zumindest fühlte sich so. Sein Denken vollzog sich in ruckartigen
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