Unsterbliches Verlangen
Frankreich kam dem mit Freuden nach und schickte Soldaten aus, die dem Orden die Schätze abnehmen sollten. Viele Templer flohen nach England und brachten angeblich so den Kelch in dieses Land. Welche Legende Sie auch glauben, beide laufen darauf hinaus, dass der Gral in England sein muss, es sei denn, Sie entscheiden sich für die Variante, nach welcher Henry Sinclair den Gral 1398 nach Nova Scotia mitnahm. Soll ich weitermachen, Miss Ryland, oder ist es mir nun gelungen, Sie zu beeindrucken?«
Fürwahr beeindruckte es sie, dass er sich in der Gralsgeschichte sehr gut auskannte, aber sein sarkastischer Ton irritierte sie. »Ich wollte keineswegs respektlos sein, Mr. Chapel.«
Er besaß tatsächlich die Stirn, über ihre Betonung des »Mister« zu lachen. »Was wissen Sie über den Gral?«
Stirnrunzelnd lief sie etwas schneller, um mit seinen großen Schritten mitzuhalten, als er weiterging. »Meine bisherigen Recherchen waren sehr umfangreich, falls Sie das meinen. Marcus und ich sammelten Informationen, die Jahrhunderte überspannen.« Sie konnte nicht umhin, ein wenig überheblich zu klingen. Marcus mochte mehr Jahre auf die ernsthafte Erforschung des Grals verwandt haben, doch diesen Unterschied machte sie leicht wett, indem sie ungleich entschlossener und hartnäckiger forschte.
Chapel blieb erneut stehen. Bisher hatte Pru überhaupt nicht darauf geachtet, wohin sie gingen, nun jedoch stellte sie fest, dass sie weit in die Gartenanlage vorgedrungen waren - weit weg vom Haus und jedweder Vorstellung von Anstand. Sogleich nahm sie den Mann neben sich besonders bewusst wahr . Er duftete nach Wärme und einer Süße, die sie nicht zuordnen konnte. Zudem hatte er im zarten Mondlicht etwas, das sie an romantische Erzählungen von Rittern und edlen Jungfern erinnerte. Niemals hatte sie die Nähe eines Mannes so gefangen genommen, erst recht nicht nachdem sie den Betreffenden erst kurze Zeit kannte.
Sie machte ein paar Schritte rückwärts, weil sie auf einmal den Drang verspürte, sich zurückzuziehen. Er folgte ihr nicht. Vielmehr beobachtete er sie mit einem wissenden Blick, der sie noch mehr verstörte als seine unerklärliche Anziehungskraft. Wusste er, dass sie, sollte er sie jetzt und hier küssen wollen, es geschehen ließe? Sah er ihr an, wie sehr sie danach verlangte, ihn zu kosten?
»Menschen jagen dem Gral aus zweierlei Gründen hinterher, Miss Ryland.«
Offenbar merkte er also nicht, wie stark sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Gott sei Dank!
»Entweder denken sie, er bringe ihnen Reichtum und Macht, oder sie glauben, dass er ihnen ewige Jugend verleihe.« Er neigte den Kopf und betrachtete sie. »Welches von beiden treibt Sie an - Gier oder Eitelkeit?«
Da war keine Spur von Tadel oder Spott in seinen Worten. Er war einfach nur neugierig.
»Verzweiflung«, gestand sie offen und hielt seinem Blick stand, obgleich er sie einschüchterte. Sie wollte weder Reichtümer noch ewige Jugend, sondern bloß die Chance zu leben.
»Ein besserer Grund als die meisten anderen. Und wie steht es mit Ihrem Mr. Grey?« Er schob die Hände in die Taschen, was trügerisch lässig und harmlos wirkte. »Welches sind seine Gründe für die Jagd nach dem Gral?«
»Zunächst einmal würde ich meinen, dass >Jagd< nicht der angemessene Ausdruck ist. Und Marcus' Gründe, den Gral zu finden, sind rein wissenschaftlicher Natur.« Das jedenfalls sagte Marcus und vermutete sie ebenfalls. Sollte er weitere Gründe haben, interessierten diese sie nicht nein, sie waren ihr vollkommen gleichgültig.
»Außerdem ist er nicht mein Mr. Grey.« Und warum hatte er sie angesehen, als würde er begreifen, was sie mit
»Verzweiflung« meinte, ohne irgendetwas darüber zu wissen?
»Vergeben Sie mir!«, sagte er mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. »Ich wollte nicht respektlos erscheinen.«
Sie kam sich wie eine Närrin vor, wenngleich sein Ton nicht im Mindesten spöttisch war. Stattdessen klang er, als empfände er Mitleid mit ihr.
Spott wäre ihr allerdings sehr viel lieber gewesen.
»Wie gut Sie Mr. Grey auch kennen mögen, rate ich Ihnen, vorsichtig zu sein, Miss Ryland. Die Gralssuche hat schon viele Männer zu ihrem Nachteil verändert. Ihr Wunsch, den Gral zu finden, nebst ihrem behüteten Leben können Sie leicht zum Ziel für jene machen, die Sie schamlos ausnutzen.« Mit diesen Worten kehrte er ihr den Rücken zu und ging weiter.
Wieder einmal hatte sie das Gefühl, er spräche aus Erfahrung, aber darüber würde
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