Unsterbliches Verlangen
nur für eine Sekunde - ebenso verzaubert von ihr gewesen war wie sie von ihm. Sie hielt ihre Hand hoch, um ihm den kleinen Kratzer zu zeigen. »Sind Sie nicht hierfür verantwortlich?«
Chapel betrachtete ihre Fingerknöchel stirnrunzelnd. »Verantwortlich wofür? Da ist nichts.«
Nun war es an Pru, die Stirn zu runzeln. Sie zog ihre Hand zurück und hielt sie ins Mondlicht. Es stimmte. Da war nichts zu sehen. Sicherheitshalber drehte sie die Hand leicht im Licht. Immer noch nichts. Der Kratzer war vollständig verschwunden.
Aber sie konnte ihn sich auf keinen Fall eingebildet haben. Wie war es möglich, dass er so schnell hellte? Oder hatte sie sich geirrt, und es war bloß eine Pustel gewesen? Dabei hätte sie schwören wollen ...
»Es wird bald hell«, unterbrach er jäh ihre Gedanken und sah sorgenvoll zum matter werdenden Mond hinauf. »Wir sollten ins Haus zurückgehen.«
Schlagartig hatte Pru ihre Hand vergessen und grinste. »Sind Sie immer noch um meine Sicherheit besorgt, Mr. Chapel?«
Er blickte sie an und fand es offenbar überhaupt nicht komisch. »Um meine eigene.«
Wieso konnte sie bei ihm so schwer unterscheiden, ob er scherzte oder nicht? »Zu viel Vorsicht bereut man vielleicht irgendwann«, erklärte sie in einem übertrieben belehrenden Tonfall.
Er neigte den Kopf zur Seite. »Genau wie zu viel Sorglosigkeit.«
Für einen so jungen Mann nahm er sich entschieden zu ernst. Sie lächelte. »Gibt es viel, was Sie bereuen, Sir?«
Mit einem bitteren Lachen senkte er den Kopf und sah auf den Weg zu seinen Füßen. »Es gab Zeiten, in denen mein Leben darauf zu gründen schien.«
Das verstand sie. »Nun, ich weigere mich, zu sehr darüber nachzudenken, was ich bereuen könnte«, sagte sie und konnte sich gerade noch davon abhalten, ihm mit dem Finger an die Brust zu tippen. »Ich hoffe jedenfalls, wenn ich eines Tages sterbe, muss ich nicht bereuen, nicht richtig gelebt zu haben.«
Als nähme er sich ihre Worte zu Herzen, kniff er die Lippen zusammen und erwiderte düster: »Das hoffe ich auch für Sie, Prudence.«
Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, ließ sie, ebenso wie der viel zu ernste Ton, verstummen. Pru starrte ihm sprachlos nach, als er ihr ein weiteres Mal den Rücken zukehrte und in Richtung Haus ging.
Er redete, als könnte er bei ihrem Ableben eine Rolle spielen, was natürlich unsinnig war. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass er ihr gefährlich werden konnte - nicht ihrem Leib, durchaus jedoch ihrem Herzen. Diese Erkenntnis drängte sich zum einen deshalb auf, weil sie ihn in dem Moment schrecklich vermisste, in dem er von ihr wegging, und zum anderen deshalb, weil sie eine tiefe Traurigkeit empfand, als sie die Leere in seinem Blick sah.
Nicht zu vergessen, wie sehr sie sich wünschte, sie könnte ein einziges Mal ihrem Namen gerecht werden, nur um ihn lächeln zu sehen und sich an seinem Lob zu weiden.
»Danke, dass Sie mit mir gekommen sind.«
Chapel sah sie an, während er leise die Tür hinter ihnen schloss, so dass sie in der dunklen Stille von Rosecourt Manor eingesperrt waren. »Es war mir ein Vergnügen, Miss Ryland.«
»War es das?«
Provozierte sie ihn oder hegte sie tatsächlich Zweifel? »Gab ich Ihnen Grund, etwas anderes anzunehmen? Falls ja, möchte ich mich dafür entschuldigen.«
Vom Spaziergang in der Nachtluft waren ihre Wangen gerötet, und das süße Aroma ihres Bluts umgab sie wie ein teures, exotisches Parfum. Er wollte sein Gesicht an ihrem Hals vergraben und sie einfach einatmen.
»Ich fürchte, ich gab Ihnen wenig andere Wahl, als mir zu folgen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben immer eine Wahl.«
Nun blitzten ihre Augen amüsiert. »Sogar ein Gentleman?«
»Ich kann nicht für Gentlemen sprechen«, erwiderte er lächelnd.
Ihr Lachen, so leise es war, wärmte ihn und brachte ihn beinahe selbst zum Lachen.
»Dann habe ich Sie nicht beleidigt?«
»Ich bitte Sie, selbstverständlich nicht.«
Eine kurze Weile sah sie ihn nachdenklich an. »Wissen Sie, Mr. Chapel, ich glaube, Sie würden es mir ehrlich sagen, sollte ich Sie gekränkt haben.«
Obwohl sie sich kaum kannten, fing sie bereits an, ihn zu verstehen. Ach fürchte, meine Umgangsformen sind äußerst dürftig. Es ist ein Defekt, der auf meine lange Abstinenz von jedweder gesellschaftlichen Aktivität zurückgeht.«
Prudence nickte. »Da haben wir ja etwas gemein.«
Glaubte sie ernsthaft, dass es zwischen ihnen Gemeinsamkeiten gab? Wie kam sie darauf? Sie
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