Unter allen Beeten ist Ruh
Freundin, und das betrifft ausgerechnet ihren Vater, dachte sie. Aber eigentlich ist es nicht mein Geheimnis, versuchte sie sich zu beruhigen, es ist seines – und daher ist es richtig, dass ich es nicht verrate.
Zu weiteren Grübeleien blieb keine Zeit, denn Karin kam lächelnd aus der Küche und stellte eine Tasse auf das Tischchen neben dem Sofa.
»Guten Morgen, Schlafmütze. Bitte sehr, Memsahib: Dein Rooibuschtee, sieben Minuten gezogen und die Milch zuerst in die Tasse. Nicht geschüttelt und nicht gerührt. Wie du es liebst.«
»Du bist wie eine Mutter zu mir.«
Karin grinste. »Gutes Stichwort: Deine Mum hat angerufen. Effie hat die gesammelte Unterstützung der Transvaalstraße 55 durch das Telefon gereicht. Sie hat angekündigt, das traditionelle Picknick am nächsten Samstag nach Schreberwerder auszulagern, um uns aufzumuntern. Inklusive Britische Buletten.«
»Ach du liebe Güte. Die wollen hierherkommen? Raus aus ihrem Kiez? Alle? Auch Ede Glasbrenner? Und Chantal?«
»Besonders Chantal«, warf Matthias ein, »als Appetithäppchen für Lutz. Dem werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er sie sieht. Vielleicht kapiert Angelika dann endlich, dass sie ihre Gefühle in den falschen Kerl investiert hat.«
Pippa kicherte und erhob sich ächzend vom Sofa. Sie wickelte sich in ihre Decke und folgte Karin mit ihrer Tasse in die Küche. Während diese die Brötchen aus dem Backofen holte und in einen großen Brotkorb legte, schlürfte Pippa in kleinen Schlucken ihr heißes Getränk.
»Chantal Schmidt …«, Pippa ließ sich den Namen der jungen Frau auf der Zunge zergehen, »… der gleiche preußische Landadel wie der Herr Kommissar. Matthias hat recht, bei ihrem Anblick wird Lutz sofort Männchen machen!«
Pippa sah Chantal vor sich, wie sie sich aus dem ersten Stock beugte, um nach ihren Kindern zu rufen, wenn die Wohnung wieder sauber war, wie sie es nannte. Chantal lebte mit drei Söhnen von drei verschiedenen Männern im Vorderhaus. Da keiner der Erzeuger sich bemüßigt fühlte, Unterhalt zu zahlen, besserte Chantal ihr Budget mit Gelegenheitsprostitution auf. Sie war eine attraktive Frau mit endlosen Beinen und langen blonden Haaren, bei deren Anblick man nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre, dass sie ihren Körper verkaufte. Ihre wenigen, aber gutsituierten Stammkunden empfing Chantal in ihrer Wohnung. Äußeres Zeichen für zahlenden Männerbesuch war ein rotes Handtuch. Es wurde über das schmiedeeiserne Geländer ihres Balkons geworfen, um ihren Kindern zu signalisieren, dass sie jetzt keine Zeit für sie hatte. Die Jungen spielten dann entweder im Hof oder saßen bei Effie Bolle am Küchentisch, tranken Kakao und machten Schulaufgaben.
Niemand aus der Hausgemeinschaft verurteilte oder kommentierte, wie Chantal das Geld verdiente, das ihre Jungs ordentlich kleidete und ihnen eine Kindheit bot, bei der sie auf nichts verzichten mussten – bis auf einen Vater.
»Bei Chantal hat bisher fast jeder Mann Stielaugen gekriegt«, sagte Karin, »da wird Lutz’ Maske als treusorgender Liebhaber blitzartig fallen.«
»Ha – Liebhaber bestimmt, aber treusorgend …? Da habe ich gestern Nacht ganz andere Dinge gesehen.«
Kaum ausgesprochen, bereute Pippa ihre Worte, denn Karins Augen schleuderten große Fragezeichen in ihre Richtung.
Flucht nach vorn, dachte Pippa, und sagte: »Du brauchst gar nicht so zu gucken. Wahrscheinlich durfte ich heute Nacht eine kleine Vorschau auf meine Wechseljahre erleben: Schlafstörungen und Hitzewallungen. Durch die ganze Aufregung, nehme ich an. Ich musste einfach noch mal an die frische Luft.«
Karins Gesichtsausdruck war noch immer misstrauisch. »Scheint dir ja geholfen zu haben, geschlafen hast du jedenfalls wie ein Baby.«
Pippa gab sich die größte Mühe, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Siehst du, sag ich doch!«
»Und was hast du nun beobachtet?«
Pippa senkte die Stimme und erzählte Karin eine bereinigte Version dessen, was sie gesehen hatte. Vor den Peschmanns und den Jugendlichen, die bereits um die lange Frühstückstafel saßen, wollte sie ihre Beobachtungen nicht ungefiltert herausposaunen.
»Mein lieber Schwan – der traut sich was«, flüsterte Karin, »eine Frau mitzubringen, während Angelika nichtsahnend in ihrem Bettchen liegt … als Mann wäre ich jetzt vermutlich schwer beeindruckt.«
»Gott sei Dank bist du keiner«, sagte Pippa und flüchtete ins Bad, froh darüber, sich beim Spagat zwischen der
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