Unter allen Beeten ist Ruh
»Dorabella und ich haben täglich miteinander telefoniert. Glaub mir, ich habe versucht, sie noch umzustimmen … aber sie war buchstäblich des Lebens müde.«
»Also lief alles nach Plan.«
»Bis auf meinen blöden Fehler. Am Tag meiner offiziellen Rückkehr … na ja, ich musste bis um zehn ausgecheckt haben und bin wohl zu schnell gelaufen. Jedenfalls habe ich eine Rieke zu früh genommen. Und du hast es gemerkt.«
… und deshalb muss ich dich leider töten, würde jetzt der verrückte Mörder im Krimi sagen, dachte Pippa schaudernd. Aber sie saß hier nicht mit einem verrückten Mörder, sondern mit einem verzweifelten Mann, der von Schuldgefühlen zerfressen wurde.
» Ihr Jungen handelt und redet aus eurer Kraft heraus und ohne das Wissen unendlicher Schmerzen , sagt meine Großmutter immer. Ich glaube, sie hat recht damit. Und wer weiß, vielleicht wünsche ich mir später einmal einen Freund wie dich an meiner Seite, wenn ich keinen Ausweg mehr sehe, Viktor.« Sie nahm seine Hand und drückte sie herzlich. »Von mir wird niemand etwas erfahren. Ich werde dich nicht verraten, das verspreche ich dir.«
»Ich danke dir«, sagte Viktor mit belegter Stimme, »und ich danke dir auch dafür, dass ich dir alles anvertrauen durfte. Ich weiß, dass du es dir nicht leicht gemacht hast, Pippa, das hilft mir besonders. Ich gehe dann mal. Ich habe das Gefühl, ich kann heute endlich mal wieder schlafen.«
»Ich bleibe noch einen Moment«, erwiderte Pippa. »Schlaf gut.«
Sie lauschte seinen leiser werdenden Schritten. Sorgfältig erforschte sie ihr Inneres, ihre Gefühle. Trotz ihres Entsetzens über das, was Viktor getan hatte, empfand sie tiefes Verständnis für ihn. Wie würde sie selbst wohl handeln? Wenn ihre geliebte Grandma Will todkrank wäre, zum Beispiel? Oder ihre Freundin Karin? Es gab nichts Wichtigeres als echte Freundschaft, denn nur dann konnte man über alles sprechen, auch über unbequeme Dinge. Viktor musste ihr sehr vertrauen, sonst hätte er sich ihr niemals offenbart. Sie konnte sich glücklich schätzen, Freunde wie die Wittigs zu haben, die ein offenes Wort aushalten konnten – und umgekehrt.
Pippa fröstelte und sehnte sich plötzlich nach dem Schlafsofa. Sie wollte sich gerade auf den Weg zur Parzelle der Wittigs machen, als ein näherkommendes Motorengeräusch sie innehalten ließ. Der Motor wurde noch auf dem Wasser abgestellt, und das kleine Motorboot – Pippa erkannte es sofort als das von Lutz Erdmann – driftete fast lautlos in Höhe von Erdmanns Parzelle ans Ufer. Ein Anker platschte, und Lutz flankte betont lässig ins knietiefe Wasser. Er streckte die Arme aus, um seine Begleiterin buchstäblich auf Händen ans Ufer zu tragen.
Sieh da, das junge Glück, dachte Pippa ehrlich erstaunt. Ich habe mich wieder mal geirrt. Er hat sie also doch noch geholt und mit in seine Wellness-Oase genommen. Eine weitere auf der langen Liste von Fehleinschätzungen dieses Tages.
Dann hörte sie Lutz’ Stimme, und das glückliche Lachen der Frau klang zu ihr herüber. Pippa erstarrte. Die Frau, die in Lutz’ Armen lag, lachte unbeschwert und selbstbewusst. Diese Frau war unverkrampft und ohne Angst. Das war nicht Angelika Christ. Pippa wagte kaum zu atmen. Sie kannte diese Stimme. Sie hatte dieses Lachen schon einmal gehört … da war es ebenfalls Nacht gewesen. Ihre erste Nacht auf Schreberwerder!
Pippa blickte wie automatisch auf das schwach leuchtende Ziffernblatt ihrer Armbanduhr. Es war halb drei Uhr nachts, und die Frau, die Lutz da gerade im Schein seiner Poolbeleuchtung leidenschaftlich küsste, war nicht seine Verlobte.
Kapitel 24
S timmengewirr und Geschirrgeklapper weckten Pippa nach einer viel zu kurzen Nacht.
Nein, dachte sie müde, ich will noch nicht aufstehen. Ich lasse die Augen fest geschlossen wie ein Kind, das sich unsichtbar machen will … und dann lässt man mich hoffentlich bis Mittag in Ruhe. Als jedoch der unwiderstehliche Duft frisch aufgebackener Brötchen ihre Nase umschmeichelte, änderte ihr Magen diesen Plan und knurrte laut. Pippa kapitulierte vor der Wucht ihrer Gier und blinzelte.
»Tante Pippa ist wach«, verkündete Sven, »wir können frühstücken!«
Ergeben öffnete Pippa die Augen. Ihr erster Blick fiel auf Karin, die ihr aus der kleinen Küche zuwinkte.
»Ma’am, Tee kommt sofort, Ma’am«, rief Karin im devoten Tonfall eines kolonialen Butlers.
Pippas Gewissen meldete sich prompt. Zum ersten Mal habe ich ein Geheimnis vor meiner besten
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