Unter deinem Stern
worüber sollte er mit ihr reden? Das Einzige, was sie miteinander verband, war Luke. Doch das Schweigen zwischen ihnen war keineswegs peinlich. Sie gingen vollkommen entspannt miteinander um, als würde die Trauer sie in wortloser Freundschaft zusammenschweißen.
Sie schlenderten an den Häusern der Fischer vorbei durch die menschenleere Straße. Die Stille hier erinnerte Claudie an die Stille in einem Western kurz vor einer Schießerei. Ob hier überhaupt jemand wohnte?
»Die Touristenhorden sind wohl noch nicht eingetroffen, was?«, sagte Daniel lachend, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Nein«, erwiderte Claudie, aber als sie in den schiefergrauen Himmel hinaufschaute, überraschte sie das nicht. Die Leute kamen nicht vor Juni nach Yorkshire, wenn sie wussten, was gut für sie war.
Als sie den Strand erreichten, blieben sie einen Moment lang stehen. Es war Ebbe, und sie beschlossen, einen Spaziergang über den nassen Sand zu machen. Normalerweise kam Claudie sehr gern nach Staithes. Obwohl das Meer ein alltäglicher Anblick für sie war, übte es hier jedes Mal einen ganz besonderen Zauber auf sie aus. Heute jedoch wirkte der Strand unglaublich traurig, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. Das Meer war ebenso trübgrau wie der Himmel und wirkte ausgelaugt und krank. Die ganze Szenerie sah aus, als müsste man sie ins Bett stecken, ihr heiße Hühnersuppe einflößen und sie pflegen, bis es ihr wieder besser ging. Vielleicht hätten wir doch lieber zu Hause bleiben und uns alte Filme ansehen sollen, dachte Claudie.
»Claudie«, sagte Daniel unvermittelt, »es tut mir Leid, dass ich dich nicht besucht habe. Du weißt schon – seit der Beerdigung.«
Claudie blieb stehen und starrte auf den Sand, als könnte sie mit den Augen ein Loch hineinbohren. Daniel hielt ebenfalls inne, und einen Moment lang betrachtete sie seine mit Sand besprenkelten Stiefel. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie leise.
»Ich hab es mir immer wieder vorgenommen. Aber – ich wusste einfach nicht, was ich zu dir sagen sollte.«
Sie schaute ihn an und nickte. »Ich hätte dich anrufen sollen.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wo die Zeit bleibt«, sagte Daniel. Aus dem Mund jedes anderen hätte dieser Satz hohl geklungen, aber Claudie wusste, was er meinte. Auch sie erlebte Zeit jetzt ganz anders.
Seit Lukes Tod war sie regelrecht besessen von der Zeit. Die ersten Monate waren die schlimmsten gewesen. Die schlaflosen Nächte und nicht enden wollenden Tage hatten sie gequält, und in Gedanken war sie immer wieder in die Zeit zurückgekehrt, als er noch gelebt hatte, verzweifelt hatte sie versucht, sich zu erinnern, was sie alles gemeinsam unternommen und erlebt hatten, und sich gefragt, ob sie auch das Beste aus allem gemacht hatten. Hatten sie sich innig genug geliebt? Hatten sie intensiv genug gelebt? Hätten sie mehr aus ihren gemeinsamen Momenten herausholen können, wenn sie geahnt hätten, wie wenig ihnen davon beschieden sein würde?
Vor zwei Jahren waren sie gemeinsam auf Wohnungssuche gewesen. Vor einem hatten sie sich verlobt und ihre Hochzeit geplant. Das war erst zwölf Monate her. Wie viele Stunden waren das? Einmal hatte sie es ausgerechnet. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen, ein sicherer Hafen der Geborgenheit, wo das Unglück nur andere traf, und Tod war ein Wort gewesen, das man mit denen, die man liebte, überhaupt nicht in Zusammenhang brachte.
Daniel vergrub die Hände in den Hosentaschen und bohrte eine Ferse in den nassen Sand. »Und? Kommst du einigermaßen klar?«
Claudie drehte sich zu ihm um. »Es gibt nicht viele Leute, die sich trauen, mich das zu fragen.«
»Ich weiß, was du meinst«, gestand er leise.
»Vor lauter Angst, ich könnte losheulen.«
Er nickte, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er das aus Erfahrung wusste.
»Womit die Leute überhaupt nicht umgehen können«, fuhr sie fort, »ist, dass ich so still bin. Ich habe fast den Eindruck, als erwarteten sie von mir, dass ich vor ihnen explodiere oder zusammenbreche. Aber so bin ich nicht. Ich stelle meine Gefühle nicht gern in der Öffentlichkeit zur Schau.«
Daniel hob die Brauen.
»Außer bei einer Beerdigung«, sagte sie, bevor er eine Bemerkung dazu machen konnte. »Jemand hat mir erzählt, ich hätte da völlig die Fassung verloren.«
»Erinnerst du dich nicht mehr daran?«
Claudie schüttelte den Kopf. »Du?«
Daniel nickte, sagte jedoch nichts.
»Mein Gott.« Claudie hätte diesen Tag so gern aus
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