Unter deinem Stern
wieder. »Was machst du hier?«
»Ich wollte nach dir sehen. Es hat mir furchtbar Leid getan, als dein Chef dich einfach so nach Hause geschickt hat. Wir bedauern das alle. Ich fürchte, es war meine Schuld.«
»Sei nicht albern.«
»Doch! Ich bin eben zu streitsüchtig. Ein schrecklicher Charakterfehler. Ich bin als Engel definitiv nicht zu gebrauchen.«
»So ein Quatsch«, sagte Claudie, stützte das Kinn in die Hände und betrachtete Lily, die im Licht ihrer Nachttischlampe aussah wie ein Star auf der Bühne. »So schlecht kannst du gar nicht sein, wenn du eine Strafe riskierst, bloß um herzukommen und dich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen.«
Lily schaute sie an. »Meinst du?«
»Sicher. Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Ihr habt mir schon richtig gefehlt.«
»Wirklich?«
»Ja. Es ist seltsam, aber ich habe mich richtig daran gewöhnt, euch in meiner Nähe zu haben.«
»Dabei machen wir dir doch nur Ärger.«
»Nein, das stimmt nicht. Ihr seid alle so lieb zu mir. Mit euch um mich herum fühle ich mich so –«
»Ja?«
»So behütet!«, sagte Claudie. »Und nicht nur das. Ständig fallen mir Dinge ein, die ich euch unbedingt erzählen möchte. Wenn ich zum Beispiel in einer Zeitschrift blättere und ein schönes Kleid entdecke, dann denke ich sofort: Das muss ich Lily zeigen. Oder wenn ich im Fernsehen einen Witz höre, kann ich es gar nicht erwarten, ihn am nächsten Tag Bert zu erzählen. Ihr seid wie eine Familie, bloß ganz anders als eine normale Familie. Es macht mich ganz stolz und glücklich, dazuzugehören.«
»Ist das wahr?«
»Ja, das ist wahr! Ihr glaubt gar nicht, wie viel Freude ihr in mein Leben bringt. Ich wünschte nur, ich könnte euch nicht nur im Büro, sondern auch zu Hause um mich haben.«
»Wow!«, rief Lily. »Würdest du das bitte für mich aufschreiben? Für meine Akte? Das ist die beste Rückmeldung, die ich je bekommen habe. Ich durfte bisher erst zweimal an einer solchen Aktion teilnehmen, und beide Male war es eine totale Katastrophe«, gestand Lily kichernd. »Ich dachte schon, sie würden mir nie wieder eine Chance geben. Aber das ist wirklich fantastisch.«
Claudie lächelte. »Was hast du denn die beiden anderen Male angestellt?«
Lily grinste verlegen. »Du weißt ja, dass wir eigentlich nicht über unsere Aufträge sprechen dürfen«, sagte sie und schaute sich um, als könnte sie jemand hören. »Ich hab richtigen Mist gebaut. Einmal haben sie uns zu einem kleinen Jungen geschickt, dessen Hund gestorben war.«
»Der arme Kerl.«
»Ja, das dachte ich auch. Bis ich ihn kennen gelernt habe. Der Junge war schrecklich! Er war immer nur gemein zu allen. Ich glaube, der Hund hat wirklich Glück gehabt, dass er ihm nicht länger ausgeliefert war.«
Claudie unterdrückte ein Kichern.
»Eines Tages jedenfalls, als er besonders übel gelaunt war, hab ich mich in seiner Schultasche versteckt. Eigentlich hätte ich sein Zimmer nicht verlassen dürfen, aber ich konnte ihn einfach nicht mehr ertragen. Ich wollte ihm einen Denkzettel verpassen.«
»Und dann?«
»Ich bin den ganzen Tag in meinem Versteck geblieben, und, glaub mir, das war wirklich nicht einfach, bei allem, was ich in seiner Schultasche gefunden habe – doch das ist eine andere Geschichte. Ich bin also dringeblieben und hab ihn bei jeder Gelegenheit gebissen und gekniffen, sodass er während des Unterrichts immer wieder laut aufgeschrien hat. Es war total lustig, die Lehrer sind fürchterlich sauer geworden, und am Ende musste er zweihundertmal den Satz ›Ich darf im Unterricht nicht stören‹ schreiben und dreimal nachsitzen.«
»Lily!«
»Für meinen Geschmack war das eine viel zu milde Strafe, aber sie haben mich trotzdem erwischt und in die Sterberegistratur versetzt, wo eine bösartige Frau mich dazu verdonnert hat, die Akten auf dem neuesten Stand zu halten. Das einzig Interessante daran war, dass ich immer wusste, wer als Nächstes sterben würde.«
»Das klingt ja faszinierend«, sagte Claudie.
»Da irrst du dich. Genieße lieber dein Leben, solange du noch hier bist.«
Claudie nickte und wartete, was nun kommen würde.
»Darf ich mal einen Blick in deinen Kleiderschrank werfen?«, fragte Lily.
»Natürlich, auch wenn du bestimmt nichts in deiner Größe finden wirst.«
»Du glaubst gar nicht, wie gern ich mich in anderer Leute Kleiderschränken umsehe!«
»Lily?«
»Hmmm?«
»Hast du dein Leben genossen? Ich weiß eigentlich kaum etwas über dich.«
Lily, die auf
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