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Unter deinem Stern

Unter deinem Stern

Titel: Unter deinem Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Connelly
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ihrem Gedächtnis getilgt. Stattdessen war er in ihrer Erinnerung haften geblieben wie ein Film, der auf einen dahinströmenden Fluss projiziert wurde: Die einzelnen Bilder waren alle da, doch sie verschwammen vor ihren Augen, als hätte sie Drogen genommen. Vielleicht hatte sie das ja sogar getan. Ihre Mutter hatte ihr irgendetwas gegeben, bevor sie das Haus verlassen hatten, etwas, das Claudie für Paracetamol gehalten hatte. Bei ihr konnte man allerdings nie wissen. In der Handtasche ihrer Mutter raschelte es immer wie in einer reifen Mohnkapsel.
    Claudie und Daniel gingen zu den schlafenden Felsen am Fuß der Klippe. Es war ein seltsamer Anblick. Riesige schwarze Felsbrocken, glänzend wie Kohle und eiskalt, wenn man sie berührte. Claudie schauderte, als sie mit dem Finger über einen der Felsen fuhr. In diesem Gestein müssen tausende kalter Tage eingeschlossen sein, dachte sie bei sich.
    Eine einzelne Möwe zerriss die Stille mit einem schrillen Schrei. Claudie hob den Kopf und schaute dem Vogel hinterher, bis ihr Blick an den Klippen hängen blieb, die den Strand schützten.
    »Was glaubst du, wie hoch der Felsen war?«, fragte sie, den Kopf in den Nacken gelegt.
    Daniel schaute nach oben. »Jedenfalls viel höher als die da«, sagte er, ohne dass sie ihm erklären musste, was sie meinte.
    Claudie riss sich von dem Anblick los, schaute nach unten und starrte in den Sand, als wollte sie die einzelnen Körner zählen.
    »Einfach lächerlich«, murmelte sie vor sich hin. »Ich meine, wie kann man wütend auf einen Berg sein?« Ihre Stimme klang tonlos und abwesend, als hätte die Möwe sie fortgetragen.
    Sie ließ sich auf einen der Felsen sinken, und Daniel setzte sich neben sie.
    »Du bist nie mit ihm zusammen geklettert, nicht wahr?«, bemerkte Claudie. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
    »Nur einmal. Aber es kam mir zu gefährlich vor.«
    Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab.
    »Du hältst dich wirklich tapfer«, sagte Daniel.
    Claudie hob die Schultern. Sie wollte ihm nicht sagen, dass alles nur Schau war.
     
    »Alles in Ordnung?«
    Sie nickte. Sie wollte nicht mehr reden. Allmählich wurde ihr die Situation zu vertraulich. Zum Glück war Daniel Gale kein Mann vieler Worte, aber dieser Strand hatte auf ihn offenbar die Wirkung eines Beichtstuhls, denn auf einmal hörte er überhaupt nicht mehr auf zu reden. Vielleicht war es das unablässige Plätschern der Wellen, das ihm die Zunge löste. Oder vielleicht war es endlich für ihn der richtige Zeitpunkt.
    »Claudie«, begann er, und sie wusste sofort, was als Nächstes kommen würde. Sie hatte gelernt zu spüren, wenn jemand sich anschickte, über Luke zu sprechen. Die Leute bekamen dann diesen Blick, und ihre Stimme nahm einen ganz bestimmten Ton an. Dann wollte sie sich jedes Mal am liebsten die Ohren zuhalten und weglaufen. Doch am Strand von Staithes konnte sie sich nirgendwo in Sicherheit bringen. Sie würde wohl oder übel dort sitzen bleiben und zuhören müssen.
    »Ich möchte dich um Verzeihung bitten – nicht nur, weil ich mich seit Lukes Tod so bescheuert aufgeführt habe, sondern auch für meine Mutter. Ich finde, sie benimmt sich dir gegenüber unmöglich, und das habe ich ihr auch gesagt.«
    »Ach, Daniel, das hättest du nicht tun dürfen!«
    »Doch«, sagte er. »Sie hätte sich mehr um dich kümmern sollen. Es gibt überhaupt keine Entschuldigung für ihr Verhalten.«
    »Ich finde schon«, sagte Claudie.
    Daniel sah sie verblüfft an. »Welche?«
    »Sie hat einen Sohn verloren.«
    Daniel schwieg einen Augenblick. »Und du hast deinen Mann verloren, und ich meinen Bruder. Wir hätten alle zusammenhalten sollen. Verdammt! Ich quatsche schon wie irgend so ein dämlicher amerikanischer Talkmaster. Zumindest hätten wir versuchen sollen, einander beizustehen. Anstatt uns voneinander abzukapseln.«
    »Wahrscheinlich hast du tatsächlich zu viele Talkshows gesehen.«
    »Ich meine es ernst, Claudie.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Ich kann nur nicht besonders gut damit umgehen.«
    »Ich finde, du machst das alles ganz großartig.«
    »Wirklich?«
    Er nickte. »Ja. Ich bin sehr beeindruckt.«
    Sie lächelte und errötete unter seinem Blick. Um ihn abzulenken, rieb sie sich die Hände. »Ich hätte mir ein Paar Handschuhe kaufen sollen«, sagte sie.
    Ohne zu zögern nahm Daniel ihre Hände in seine.
    »Du frierst ja«, sagte er.
    »Deine Hände sind schön warm.«
    Er lächelte, und einen Moment lang meinte sie Tränen in seinen Augen

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