Unter deinem Stern
einem hellgrauen Kleid in Claudies Schrank hockte, drehte sich um. »Du hast aber viele graue Sachen, Claudie. Magst du keine Farben?«
»Lily? Versuchst du etwa, vom Thema abzulenken?«
»Tut mir Leid«, sagte Lily, »Farben sind mir einfach wichtig. Ich finde, du solltest unbedingt mal einen Boutiquenbummel machen. Ich könnte dich begleiten! Die Erlaubnis dafür würde ich bestimmt bekommen.«
»Lily!«, rief Claudie.
»Ist ja gut, ist ja gut«, seufzte sie. »Ich weiß gar nicht recht, was ich dir erzählen soll. Mein Leben war so kurz, und ich habe kaum etwas erlebt, was sich zu berichten lohnt. Mary war diejenige, die ein aufregendes Leben geführt hat. Sie hatte Glück. Sie hat den ersten Mann geheiratet, der ihr einen Antrag gemacht hat. Sie war sogar in ihn verliebt. Noch dazu war er reich.«
»Und du? Hast du dich jemals verliebt?«
Lily zuckte die Achseln, und plötzlich wirkte sie so winzig und hilflos, dass Claudie sie am liebsten in den Arm genommen hätte.
»Ich habe keine Gelegenheit dazu gefunden. Meine Eltern wollten mich mit irgendeinem Grafen verheiraten, den ich noch nie gesehen hatte. Er war achtzehn Jahre älter als ich und angeblich so fett wie ein Mastschwein. Glücklicherweise bin ich noch mal davongekommen.«
»Wie denn?«
»Ich bin gerade rechtzeitig gestorben.«
Claudie zog die Brauen zusammen. Das war überhaupt nicht komisch.
Ein schwaches Lächeln breitete sich auf Lilys Gesicht aus. »Man muss lachen, sonst weint man!«, sagte sie. »Das ist das Erste, was man auf der anderen Seite lernt.« Damit brach sie in ein Gelächter aus, das, wäre sie ein bisschen größer gewesen, den ganzen Kleiderschrank hätte wackeln lassen. Claudie ließ sich davon anstecken, und schon bald liefen ihnen beiden Tränen über die Wangen.
»Du bist gerade rechtzeitig gestorben!«
»Ja, genau! Denen hab ich’s gegeben!«
»So fett wie ein Mastschwein!«
»Der hätte mich glatt unter sich zerquetscht!«
»Elizabeth Chandler! Was fällt dir eigentlich ein?«, ertönte plötzlich eine andere Stimme, und als Claudie sich umdrehte, sah sie Mary auf ihrem Nachttisch stehen, die Hände in die Hüften gestemmt und die Nüstern gebläht wie ein wutschnaubendes Pferd.
»Mary! Was machst du denn hier?«
»Wie bitte? Sag mir lieber, was du hier tust!«, fauchte Mary.
»Du weißt ganz genau, dass es meine Idee war!«, zischte Lily.
»Du Lügnerin! Du hast mir hoch und heilig versprochen, mir nicht zu folgen, als ich dir gesagt habe, dass ich herkommen wollte.«
»Hab ich nicht!«, entgegnete Lily gekränkt.
»Doch, das hast du! Aber du hast ja noch nie ein Versprechen halten können. Weißt du noch, wie wir mal auf den Markt gegangen sind und du mir versprochen hattest, mich Robert Samuels vorzustellen?«
Lily seufzte. »Es ist echt nicht zu fassen, dass du mir diese Geschichte nach beinahe fünfhundert Jahren immer noch vorhältst!«
Mary schüttelte den Kopf. »Also, manchmal ist es wirklich ein Kreuz, eine Zwillingsschwester zu haben.«
»Schsch!«, zischte Claudie, die allmählich befürchtete, Daniel könnte mitbekommen, was sich in ihrem Schlafzimmer abspielte. Doch es war zu spät. Ein Klopfen an ihrer Tür sagte ihr, dass er bereits zu viel gehört hatte.
»Claudie?«, sagte er, öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte ins Zimmer.
Sie drehte sich um, und obwohl sie wusste, dass es Daniel war, hätte sie in dem Halbdunkel einen Augenblick lang schwören können, Luke vor sich zu sehen. Ihr blieb fast das Herz stehen, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
»Claudie? Mit wem hast du eben gesprochen? Alles in Ordnung?«
Claudie konnte nur stumm nicken. Gott, manchmal sah er seinem Bruder so ähnlich, dass es ihr fast den Atem raubte. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie kaum hörbar. »Wirklich« ,fügte sie hinzu, als er zweifelnd die Brauen hob.
Er nickte und verzog sich wieder. Dann hörte sie ihn ins Wohnzimmer gehen.
»Wer war das denn?«, fragte Lily mit großen Augen. »Solche Prachtexemplare gab es zu meiner Zeit nicht.«
»Elizabeth!«, schalt Mary.
»Stimmt doch! Das waren alles Schlappschwänze in Wams und Strumpfhose. Einem Mann in Jeans würde ich jederzeit mein Herz zu Füßen legen!«
Mary lächelte. »Na ja, die Männer heutzutage sind wirklich attraktiver als unsere damaligen Zeitgenossen«, gab sie zu.
»Denkt ihr an jemand bestimmten?«, fragte Claudie.
Lily, die inzwischen wieder auf Claudies Nachttisch angekommen war, flüsterte ihrer Schwester etwas
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