Unter deinem Stern
Pullover und zog ihn über, bevor er aufstand.
»Also, komm. Wo ist denn das Untier?«
Claudie ging ihm voraus, blieb jedoch an ihrer Zimmertür stehen und zeigte auf die Spinne an der Wand wie ein verschrecktes Kind.
»Mein lieber Schwan! Das ist ja wirklich ein Riesenexemplar. Was soll ich denn mit ihr machen?«
»Ich weiß nicht! Mach sie einfach weg!«, stammelte Claudie.
»Okay, okay«, sagte er ruhig.
Claudie traute sich einen Schritt weit ins Zimmer hinein, das Gesicht vor Furcht und Abscheu verzogen. Obwohl es sie grauste, konnte sie nicht wegsehen.
Bevor sie überlegen konnte, was Daniel tun würde, hatte er die Spinne, ZACK!, mit einer blitzschnellen Bewegung platt gehauen.
Claudie schrie.
»Sie ist tot!«, sagte Daniel. »Wieso schreist du jetzt noch?«
»Es war grauenhaft!«
»Was hast du denn erwartet, das ich tun würde?«
»Ich weiß es nicht. Aber nicht so was! Merde! «
»Die hat bestimmt nicht gelitten, Claudie. Das ging viel zu schnell.« Er zog ein Papiertaschentuch aus der Schachtel neben ihrem Bett und entfernte die tote Spinne. Claudie war wie erstarrt. Seine Worte hatten sie wie ein Faustschlag getroffen.
Daniel ging ins Bad, warf die Spinne samt Papiertaschentuch ins Klo und zog ab. Dann betrachtete er seine Hände. Claudie stand immer noch wie angewurzelt in der Schlafzimmertür.
»Claudie? Was ist los?«, fragte er leise.
»Ich –« Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie fühlte sich vollkommen hilflos. Sie brachte kein Wort heraus, und ihre Augen brannten.
»He!« Daniel trat auf sie zu und nahm sie in seine großen, kräftigen Arme. »Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß.« Immer wieder streichelte er über ihre Haare, genau wie Luke es immer getan hatte, doch das machte alles nur noch schlimmer. Sie brach in Tränen aus und konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen.
Daniel ließ sie weinen. Er streichelte sie und redete leise tröstend auf sie ein. Es kam ihr so vor, als würden sie eine Ewigkeit dort im Halbdunkel stehen, und sie fühlte sich von Daniel wie hypnotisiert. Aber irgendwann folgte auf die brüderliche Umarmung ein Kuss. Anfangs nahm sie die Veränderung kaum wahr. Ein Kuss auf die Stirn schien ihr unter den gegebenen Umständen durchaus nicht unangemessen. Die simple Geste hatte etwas Tröstliches. Doch Daniels Lippen begannen zu wandern. Sie spürte sie an ihrem Ohr, an ihrem Hals, dann auf ihrem Mund. Es fühlte sich ganz wunderbar seltsam an, weil es sie so sehr an Luke erinnerte.
Aber das war nicht Luke. Das war Daniel.
Sie versuchte, ihn von sich wegzuschieben, doch es war, als wollte sie eine Wand mit einer Stricknadel bewegen. Als sie zum Schreien ansetzte, brachte sie nur ein Krächzen zustande, weil ihre Kehle vom vielen Weinen noch ganz trocken war.
Ihr blieb nur eine Möglichkeit. Sie trat ihm mit dem Knie in den Schritt.
»SCHEISSE!«
Ohne zu zögern rannte Claudie ins Wohnzimmer und sammelte seine Sachen zusammen. Hemden, Schuhe, Kulturbeutel. Sie brauchte nicht lange.
Sie riss die Haustür auf und warf alles in die feuchtkalte Nacht hinaus. Wie konnte er nur? Wie konnte er die Situation nur so ausnutzen? Er hatte alles verdorben.
»VERDAMMTE SCHEISSE!«, hörte sie ihn stöhnen.
»MACH, DASS DU RAUSKOMMST!«, schrie sie, ohne sich darum zu scheren, dass sie wahrscheinlich die halbe Nachbarschaft aufweckte.
»Clau-diiiie!«, jammerte Daniel, während er sich vor Schmerzen krümmte. »Bitte verzeih mir!«
»Spar’s dir«, sagte sie mit einer Härte in der Stimme, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte.
»Ich möchte mich entsch–«
»Spar’s dir«, fiel sie ihm ins Wort, während sie mit tränennassen Augen zusah, wie er zur Tür humpelte.
»Ich weiß doch gar nicht, wo ich –«
»Dein Pech«, fauchte sie, schlug die Tür hinter ihm zu und schob den Riegel vor. Wenn er vernünftig war, würde er zurück nach London trampen und sich nie wieder bei ihr blicken lassen.
Sie ging ins Wohnzimmer. Um ihrem Ärger Luft zu machen, riss sie das Bettzeug vom Sofa und klappte es wieder zusammen. Wenn sie am Morgen aufstand, wollte sie nicht, dass sie noch irgendetwas an Daniel erinnerte.
Sie konnte es immer noch nicht fassen. Sie hatte wirklich geglaubt, in Daniel einen Freund gefunden zu haben, während er sie die ganze Zeit schamlos ausgenutzt hatte. Vor Empörung dröhnte ihr der Schädel. Aber damit nicht genug. Sie kam sich vor wie eine Versagerin. Irgendwie hatte sie es geschafft, innerhalb eines Jahres zwei Brüder zu
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