Unter deinem Stern
Freitagabende waren ihr ein Graus. Wenn sie aus York zurückkam, fühlte sie sich jedes Mal vollkommen ausgelaugt, auch wenn die Sitzung mit Dr. Lynton gut gelaufen war. Tatsache war, dass sie weiterhin zu ihm fahren musste. Wenn Luke noch lebte, würde sie nicht einmal etwas von Dr. Lyntons Existenz wissen, und diese Erkenntnis deprimierte sie zutiefst. Sie wollte nicht therapiert werden, sie wollte eine frisch verheiratete junge Frau sein und die Dinge tun, die Jungvermählte taten.
Sie schloss die Augen. Es war so still im Haus, zu still für das Haus einer Sechsundzwanzigjährigen. Sie sollte lachen, küssen, Liebe machen, streiten – all die normalen Dinge tun, die normale junge Menschen taten – und nicht allein und ungeliebt in ihrem Sessel sitzen und auf das Wochenende warten, das wie eine leere, weite Wüste ihrer harrte.
Sie nahm das Buch, das Dr. Lynton ihr mitgegeben hatte, und legte es auf den Couchtisch. Sie würde es gar nicht erst aufschlagen. Stattdessen tat sie alles, um sich davon abzulenken. Sie kochte Tee, wusch ihre Wäsche, nahm ein Bad, staubsaugte das Wohnzimmer. Dann sah sie sich die zweite Hälfte von Einladung zum Tanz an. Sie hatte keine Lust, Freud zu lesen. Welche Art von Ratschlägen sollte ihr ein toter, sexbesessener Psychiater geben können? Nichts, was er zu sagen hatte, konnte so eloquent sein wie eine Tanznummer von Gene Kelly.
Claudie seufzte. Zum wiederholten Mal fiel ihr Blick auf das Buch auf ihrem Couchtisch, als wollte es sich bemerkbar machen. Seite dreiundsechzig, Seite dreiundsechzig, schien es zu singen, und um Viertel nach zehn hielt Claudie es nicht mehr aus.
Sie nahm das Buch und schlug es irgendwo in der Mitte auf. Seite einhundertvier. Nein, das ist die falsche Seite! ,schrie das Buch sie an. Du musst zurückblättern!
Claudie blätterte zurück. Achtundneunzig. Die Seiten raschelten. Sie sah seltsame Listen und Tabellen. Einundsiebzig.
Dreiundsechzig.
Hastig überflog sie die Seite, und als sie das Zitat von Freud fand, las sie:
»Wir finden eine Möglichkeit, das, was wir verloren haben, einzuordnen. Wir wissen, dass die tiefe Trauer, die wir nach einem solchen Verlust empfinden, nachlassen wird, aber wir wissen auch, dass wir weder einen Trost noch einen Ersatz finden werden. Was auch immer die Lücke füllt, mag es sie auch gänzlich ausfüllen, es wird nie dasselbe sein.«
26
Jemand pochte gegen die Haustür. Claudie schaltete ihre Nachttischlampe an, warf einen Blick auf die Uhr und verzog das Gesicht: halb zwölf. Wer zum Teufel klopfte nachts um halb zwölf an ihre Tür?
Dann lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was, wenn es Daniel war? Womöglich hatte er einen über den Durst getrunken, und nun war sie ihm wieder eingefallen.
Auf Zehenspitzen schlich sie durch ihr Zimmer, zog sich ihren Morgenmantel über und band ihn fest zu. Das Klopfen wurde immer lauter.
Während sie durch den Flur tapste, sagte sie sich, sie sollte sich wirklich im Tierheim einen Hund besorgen, am besten einen mit riesigen Fängen, der laut und gefährlich knurren konnte. Über so etwas hatte sie sich nie Gedanken machen müssen, als Luke noch lebte. Er brauchte nur den Kopf zur Tür hinauszustrecken, um glücklose Vertreter oder Lokalpolitiker in die Flucht zu schlagen. Claudie dagegen hatte ein viel zu weiches Herz und kaufte jedes Mal irgendwelche Seifen und Bürsten, die sie eigentlich gar nicht brauchte, und versprach, die Flugblätter, die man ihr in die Hand drückte, zu lesen.
Sie überlegte, ob sie das Licht in der Küche anschalten sollte oder nicht, blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Gestalt, die sich in dem Türfenster abzeichnete. Sie war viel zu klein, das konnte unmöglich Daniel sein. Claudie atmete erleichtert auf, schaltete das Licht an, vergewisserte sich, dass sie die Sicherheitskette vorgelegt hatte, und öffnete die Tür.
»Wer ist da?«
»Claudie!«, hörte sie eine Stimme schluchzen.
»Kris?«, flüsterte Claudie verblüfft. »Was machst du denn hier?« Hastig löste sie die Kette und ließ ihre Freundin eintreten. Nachdem sie die Tür wieder verriegelt hatte, sah sie, dass Kristen eine große Tasche bei sich hatte und dass ihr Gesicht mit roten Flecken übersät war.
»Kris!« Claudie nahm sie in die Arme. »Was ist denn passiert?«
Kristen schluchzte ein paar Mal laut auf, bevor sie sprechen konnte. »Ich glaube, ich habe Jimmy verlassen.«
»Mein Gott, Kris!«
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten
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