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Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Titel: Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fuller
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längste ganz unten, darüber Schichten von immer kürzeren, und um die Schultern eine dicke Stola.
    Dann gab es noch einen älteren Bruder meiner Großmutter, den Kriegsneurotiker Allan, einen extrem gut aussehenden, aber übersensiblen Mann, der mit siebzehn von zu Hause fortgelaufen war, um im Ersten Weltkrieg mitzukämpfen, und der nach einem Giftgasangriff auf seinen Schützengraben schreckhaft und gezeichnet zurückgekehrt war. Er hielt Hunderte von Katzen und führte eine heimliche Ehe mit der Postmeisterin des Dorfes, mit der er einen Sohn namens – wie auch anders – Allan hatte (zur Unterscheidung Klein Allan genannt, was gut funktionierte, bis Klein Allan zu einem eins dreiundneunzig großen Mann von massiger Statur wenngleich sanftem Gemüt herangewachsen war).
    »Waternish House war inzwischen einigermaßen erstickend, bis zum Rand voll mit gestörten Menschen und an den Wänden Muncles ausgestopfte Tiere«, sagt Mum. »Vermodernde Köpfe, die ihre gelben Zähne fletschten und einen mit glasigen Augen anstarrten.«
    Meine Großmutter flüchtete sich aus dieser Dickens’schen Bleibe zu den Pächtern, die auf dem Besitz lebten und arbeiteten. Bei ihnen eignete sie sich ein perfektes Gälisch an. Sie lernte außerdem, wie man sich am Strand rückwärts an den Schermesserfisch anschlich, sammelte Moos und schwamm in den warmen Strömungen des Atlantiks mit Ottern und Seehunden um die Wette. Sie ritt die warmblütigen Highland-Araber ihrer Familie im Galopp und ohne Sattel über die Heide. Ihre Nächte verbrachte sie im natürlichen, warmen Durcheinander des Hausmeisterhäuschens, das vollständig aus Wellblech gebaut war, weshalb man sein eigenes Wort nicht verstand, wenn es – was es fast immer tat – stürmte oder regnete. Entsprechend wortkarg ging es dort zu. In mancherlei Hinsicht war es eine wilde, verzauberte Jugend.
    Dennoch war es kein Wunder, dass meine Großmutter, als Freunde ihr eine freie Überfahrt nach Kenia boten, wenn sie als Au-pair-Mädchen bei ihnen arbeitete, die Insel ihrer Vorfahren verließ und sich in die Kolonien aufmachte. Sie war zwanzig. Bis zum Tag ihrer Abreise nach Afrika war sie nie weiter als hundert Meilen von ihrer Heimat entfernt gewesen. Als Reisegepäck nahm sie die bei den Pächtern erworbene Bauernschläue mit, einen Koffer mit praktischer Kleidung, ein Notizbuch, in das sie Tag für Tag die Temperaturen und andere gewichtige Vorkommnisse eintrug, sowie etliche umfangreiche Biografien von früheren und aktuellen Mitgliedern des britischen Königshauses.
    Bald nach der Ankunft in Kenia lernte sie Roger »Hodge« Huntingford kennen und heiratete ihn. Elf Jahre lang versuchten Donnie und Hodge ein Kind zu bekommen, aber die großen Mengen Chinin, die meine Großmutter als Vorbeugung und Therapie gegen Malaria schluckte, führten dazu, dass sie mehrere Fehlgeburten erlitt. Erst während des Zweiten Weltkriegs, als mein Großvater in Burma stationiert und meine Großmutter nach Waternish House zurückgekehrt war, durfte sie endlich ein Kind zu Ende austragen.
    Nach Kriegsende kehrten meine Großeltern mit der zweijährigen Nicola nach Kenia zurück. »Die Männer waren vorausgefahren, um alles vorzubereiten«, sagt Mum. »Und meine Mutter und ich folgten mit dem ersten Schiff, auf dem Frauen und Kinder mitdurften – einem umgebauten Truppentransporter, der RMS Alcantara .« Sie überlegt kurz: »In meiner Erinnerung waren auf dem Schiff zehntausend Frauen und Kinder und ein einziger Mann, Mr. Branson aus dem Kurzwarenladen in Eldoret. Aber das kann wohl nicht stimmen, oder? Vielleicht waren es auch zweitausend Frauen und Kinder und Mr. Branson aus dem Kurzwarenladen.«
    Im Zug von Mombasa nach Eldoret lief Mum den Speisewagen auf und ab und aß von allen Tischen die Butter weg – mehrere Pfund Butter, in England rationiert und hier im Überfluss vorhanden –, und als sie in Eldoret ankamen, hatte sie eine Azidose. »Ich war richtig schwer krank und wurde schleunigst zu Doktor Reynolds gebracht, der meine Leber behandelte.« Mum blinzelt mich verwundert an. »Wo waren eigentlich die ganzen Erwachsenen, als ich die Butter in mich hineingestopft habe? Ich hätte mich beinahe umgebracht in meiner Gier, und niemand hat mich dran gehindert.«
    Eldoret ist eine Stadt im Süden der Cherangani Hills auf dem Uasin-Gishu-Plateau, nicht weit der kenianischen Grenze zu Uganda. Ursprünglich hieß sie 64, weil sie vierundsechzig Meilen vom Ende der neugebauten Uganda-Eisenbahn

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