Unter dem Deich
Vater.
»Sie will später selbst noch herkommen«, erwidere ich.
»Dann sag ihr, sie soll meinen braunen Pullover mitbringen, ich verrecke hier fast vor Kälte.«
»Soll ich ihn schnell holen?«
»Nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht«, bremst er meinen Eifer. »Nachher ist früh genug. Und sag ihr, sie soll auch etwas Tabak mitbringen, ich hab kaum noch welchen. Und trockene Streichhölzer.«
»Wird das Wasser über die Planken fließen?«, frage ich.
»Wenn es weiter so steigt, ja«, sagt mein Vater, »und es steigt noch immer. Sieh nur, es steht jetzt schon wieder zwei Steine höher.«
»Aber könnte es auch über die Sandsäcke fließen?«, frage ich.
»Ach was«, sagt er, »das habe ich noch nie erlebt.«
»Könnte das Lotsenboot sich nicht losreißen?«, möchte ich wissen.
»Ach was«, antwortet er.
Ich erwidere nichts und schaue zu dem Lotsenboot hinüber, das bereits ziemlich hoch gestiegen ist. Wenn das Wasser weiter steigt, müsste eigentlich irgendwann der Moment kommen, in dem die Trossen so stark gespannt sind, dass sie reißen. Oder würden sich die Trossen vorher von den Pollern lösen? In der Taanstraat ertönt das Gehupe eines Lastwagens.
»Hey, der Sandlaster«, sagt der Aufseher.
»Du solltest lieber nach Hause gehen«, sagt mein Vater.
»Darf ich noch kurz bleiben und zusehen, wie die Sandsäcke gestapelt werden?«
»Deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen.«
»Sie weiß doch, dass ich hier bin«, sage ich beleidigt.
»Na, dann bleib halt.«
Die Sandsäcke werden dachziegelartig auf die Flutplanken gelegt. Auch die Stellen, wo die Flutplanken in den metallenen Wandhalterungen stecken, werden mit Sandsäcken abgedeckt.
»Wenn das Wasser jetzt über die Planken steigt, läuft es dann nicht zwischen den Sandsäcken hindurch?«, frage ich.
»Hier und da wird es ein bisschen rauspieseln«, sagt der ältere Onderwater, »aber das meiste halten wir auf.«
»Jetzt aber nach Hause«, sagt mein Vater.
Während ich mit meiner flatternden Tasche zurückgehe, denke ich: »Ich will sehen, was passiert, wenn das Wasser die Sandsäcke erreicht.«
Meiner Mutter berichte ich ein paar Minuten später: »Er möchte seinen braunen Pullover, Tabak und trockene Streichhölzer haben. Ob ich ihm die Sachen schnell bringen könnte.«
»Du? Du musst ins Bett.«
»Bei dem Sturm kann ich sowieso nicht schlafen«, sage ich.
»Na, meinetwegen, dann lauf schnell.«
Als ich mit Pullover, Tabak und Streichhölzern bei den Flutplanken ankomme, hat das Wasser bereits die untersten Sandsäcke erreicht. Überall fließt es zwischen Holz und Jute hindurch in die Taanstraat. Mit großen Putzwollehampfeln werden die Löcher gestopft. Mein Vater ist so beschäftigt, dass er gar nicht merkt, dass ich hinter ihm stehe.
»Solange er mich nicht sieht, kann ich bleiben«, denke ich zufrieden, und außerdem: »Hab ich’s nicht gesagt, die Sandsäcke können das Wasser nicht aufhalten.«
Auf die erste Sandsackschicht wird eine zweite gelegt. Mit Pfählen und senkrecht stehenden Brettern werden die Säcke gestützt, und die ganze Zeit stehe ich da und sehe zu. Erst als mein Vater eine kurze Pause macht, entdeckt er mich und sagt drohend: »Bist du immer noch hier?«
»Nein, ich bin kurz zu Hause gewesen«, sage ich und gebe ihm den Pullover und die Rauchutensilien.
»Und jetzt ab nach Hause.«
»Ja«, sage ich und frage: »Und wenn das Wasser über die zweite Sandsackschicht steigt?«
»Es ist noch nie höher gestiegen als bis zur ersten.«
Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu und sage dann, was ich ihn selbst schon so oft habe sagen hören: »Was nicht ist, kann ja noch werden.«
Er sieht mich an und dreht gleichzeitig eine Zigarette. Seine Augen leuchten grünlich auf. Und schon renne ich los, die Taanstraat entlang.
Als ich am Sonntagmorgen aufwache und nach unten gehe, um mich am Kaltwasserhahn zu waschen, sehe ich meine Mutter in der Wohnstube sitzen.
»Dein Vater ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen«, sagt sie. »Erst heute Morgen um fünf war er da, um ein Brot zu essen, und er hat die Mütze abgenommen und seinen Sonntagshut aufgesetzt.«
»Ist das Wasser über die Sandsäcke gestiegen?«
»Ja«, sagt sie, »ja. Wir sollen gut zuhören, was Onkel Nico sagt, denn er wird wohl den ganzen Tag noch Dienst haben, hat dein Vater gesagt.«
Wir lauschen der Radioübertragung von Onkel Nicos Predigt über den Hebräerbrief 11, Vers 1. Weil er für die Opfer der Sturmflutkatastrophe
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