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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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betet, wird mir plötzlich bewusst, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Gleich nach dem Gottesdienst gehe ich nach draußen. Inmitten all der Spaziergänger, die nach Kirchgang und Kaffeetrinken einen Abstecher zur Hafenmole machen, gehe ich den Noorddijk entlang. Es ist, als fände hier eine Prozession statt, eine Sturmflutprozession. Wieso gehen alle den Noorddijk entlang? »Das Land des Buys-Bauern ist überflutet«, höre ich die Spaziergänger sagen. Als wir bei der Kurve im Deich ankommen und ich das Land des Buys-Bauern sehe, bin ich enttäuscht: Der Bauernhof steht noch auf dem Trockenen, und die Wiesen und Felder dahinter sehen aus, als hätte es lediglich einen Wolkenbruch gegeben. Es gibt große Wasserpfützen, aber den riesigen See mit Ruderbooten, Rettern und schwimmenden Kühen, den ich erwartet hatte, den sehe ich erst ein paar Tage später auf den Zeitungsfotos. Zwischen all den Spaziergängern schreite ich über die mit einer dünnen Ölschicht bedeckten Straßen zum Stort, wo ein Haus eingestürzt und ein Bewohner ums Leben gekommen ist. Auch das erweist sich, als wir in der Piersonstraat ankommen, als eine Enttäuschung: Das Haus steht noch halb, und das Opfer hat man schon vor Stunden weggebracht.
    Später am Tage kommt mir zu Ohren, dass man in der Taanstraat eine tote Frau gefunden hat. Offenbar ist sie in ihrem Bett ertrunken, und ich denke stolz: »Gestern bin ich da noch vier Mal vorbeigegangen.«
    Als mein Vater am Abend nach Hause kommt, aschgrau, todmüde, sagt er: »Es hat nicht viel gefehlt, und der ganze Sluispolder wäre überflutet worden.«
    »Hätten dann alle Häuser unter dem Deich unter Wasser gestanden?«, frage ich.
    »Bis zum First«, sagt mein Vater.
    Erst Tage später, als ich die Fotos sehe, auf denen die Menschen rittlings auf den Firsten ihrer überfluteten Bauernhäuser sitzen, beginnt diese Bemerkung in meinem Kopf herumzuspuken. Bei jedem Foto denke ich: »Wenn unser Deich gebrochen wäre, hätten wir auch aufs Dach klettern müssen.«
    Je mehr ich aus dem Radio über die Rettungsaktionen in Zeeland erfahre, wo Hubschrauber und Amphibienfahrzeuge eingesetzt worden sind, umso größer wird mein mit Schuldgefühlen getränkter Neid. Wenn das Wasser nur einen Kilometer weiter nördlich durchgebrochen wäre, hätten auch wir mit Hubschraubern und Amphibienfahrzeugen gerettet werden müssen. Da ich bisher noch nicht einmal in einem Auto gefahren bin, erscheint mir nichts erstrebenswerter als ein Flug mit einem Hubschrauber, der mich zu einer trockenen Stelle bringt, wo bereits Amphibienfahrzeuge bereitstehen, um mich, mal fahrend, mal schwimmend, aus dem Katastrophengebiet herauszutransportieren. Wie merkwürdig, dass der über dem Deich gelegene Teil der Stadt gut einen Meter unter Wasser gestanden hat, während der vier Meter tiefer gelegene Teil innerhalb des Deichs knochentrocken geblieben ist. Merkwürdig auch, dass die Grenze zum Katastrophengebiet genau der Deich war, den ich hinaufgeklettert bin, um meinem Vater Pullover und Tabak zu bringen. Welch ein Wunder, dass Gott das Sanierungsgebiet verschont hat! Das muss der Gemeindeverwaltung doch zu denken geben.
    Eines Abends, das Radio läuft, und die Wohltätigkeitssendung »Börsen auf, Deiche dicht« wird übertragen, klingelt es an der Haustür.
    »Sie kommen Geld sammeln«, sagt meine Mutter.
    »Wir müssen nicht spenden«, sagt mein Vater, »ich habe einen Abend und eine Nacht und einen Sonntag kostenlos gearbeitet. Sag ihnen das.«
    »Sprich selbst mit ihnen«, erwidert meine Mutter.
    Mein Vater geht zur Haustür, ich höre Stimmen, die Tür vom Flur zur Wohnstube öffnet sich wieder, und in der Tür steht nicht mein Vater, sondern Bruder Strijbos.
    Er rappelt mit der Sammelbüchse, und meine Mutter sagt: »Hat Pau nicht gesagt …«
    »Deswegen bin ich nicht hier«, erwidert Strijbos.
    Als mein Vater auch wieder im Zimmer ist und die beiden links und rechts von dem mit Eierkohlen geheizten gusseisernen Ofen sitzen, sagt Strijbos: »Ich weiß nicht, ob ihr es schon gehört habt, aber alle meine Bibeln sind abgesoffen.«
    »Nicht möglich!«, sagt mein Vater
    »Doch«, sagt Strijbos, »ich habe meine ganze Sammlung wegschmeißen müssen. Und es waren herrliche, einmalige, wertvolle Exemplare darunter, eine Deuxaes-Bibel von 1562 und die Neuauflage aus dem Jahr 1587, und eine Delfter Bibel, und die wunderschöne Neuausgabe aus dem Jahr …«
    »Bist du versichert?«
    »Nein, natürlich nicht, man

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