Unter dem Deich
braunen Ledereinbände sind verschimmelt.«
Bruder Strijbos fügte sich nicht in sein Schicksal. Der Frühling hatte noch nicht begonnen, da hatte er bereits die ganze Stadt an seinen Zweifeln teilhaben lassen. Von den Kanzeln wurde vor ihm gewarnt. Auf der Straße wandte er sich verzweifelt an die Mitglieder der Gemeinde und fragte, wie der Untergang seiner Bibelsammlung damit zusammengehen könne, dass jede einzelne Bibel für sich schon Gottes Wort enthielt. Man bot ihm neue Bibeln an. Die nahm er begierig an und stellte sie stur auf exakt dasselbe zweite Brett. Ob er die Lederrücken der Bücher streichelte, ist nicht bekannt, aber fest steht, dass er, von plötzlichem Argwohn erfüllt, nun jeden Tag das Wort des Herrn studierte. Bei seinen Entdeckungsreisen durch die Bibel stieß er, der früher nie ein einziges Wort der Heiligen Schrift in Zweifel gezogen hätte, auf die, in seinen Augen, merkwürdigsten Widersprüche. Immer, wenn er etwas gefunden hatte, das ihm unstimmig vorkam, begab er sich zu einem Mitglied des Männervereins »Schrift und Bekenntnis«, um ihm seine Zweifel vorzulegen. Mein Vater ließ ihn, nachdem er dreimal bei uns gewesen war, nicht mehr ins Haus. Bei seinem ersten Besuch hatte er uns die Passage »Töten hat seine Zeit« aus Prediger 3 vorgelegt, und er hatte uns gefragt, wie das zum sechsten Gebot passte. Wie konnte es eine Zeit zum Töten geben, wenn auch geschrieben stand: »Du sollst nicht töten«?
Mein Vater konnte ihm das nicht erklären, ebenso wenig wie er ihm später deutlich machen konnte, warum in Jakobus 2, Vers 24 gesagt wird: »So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein«, während der Apostel Paulus in dem Brief an die Römer 4, Vers 2 sagt: »Ist Abraham durch Werke gerecht, so kann er sich wohl rühmen, aber nicht vor Gott«, und in Römer 5, Vers 1: »Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott«.
»Man hat uns immer gelehrt«, sagte Strijbos, »nur durch den Glauben wird man gerecht, und was lese ich nun? Ein Mensch wird durch Werke gerecht und nicht nur durch den Glauben.«
Was half es, dass mein Vater sagte, die Werke seien die Frucht des Glaubens, weshalb sie stets auf das Vorhandensein des Glaubens hinwiesen. Der Mensch wird gerecht durch Werke – das bedeute: Der Mensch sei gerecht durch den Glauben, der aus den Werken spricht.
Strijbos schüttelte den Kopf über so viel Spitzfindigkeit. So einfach lasse er sich nicht abspeisen. Nein, erneut habe das unfehlbare Wort ihm, wie er sich ausdrückte, an der Nase herumgeführt. Dass es zweihundertfach ertrunken sei, beweise zur Genüge, dass das Wort nicht Gottes Wort sei.
Mit seinem letzten Problem kam er nicht weiter als bis in den Flur. In der Wohnstube hörten wir ihn rufen: »Im Geschlechterregister bei Matthäus steht, Jesus stamme über Josef von König David ab, aber Josef war überhaupt nicht der Vater von Jesus.«
»Geh weg!«, rief mein Vater.
»Sag mir erst, wie Jesus von König David abstammen kann, wenn Josef nicht sein Vater war.«
»Maria stammt von David ab.«
»Das steht nirgendwo. Da steht: ›David aber zeugte Salomo von der Frau des Uria, Salomo aber zeugte tadammtadammtadamm – ich überspringe ein paar Zeilen – tadammtadamm, Jakob aber zeugte Josef, den Mann Marias, von welcher Jesus geboren wurde.‹«
»Raus aus meinem Haus«, sagte mein Vater, »klopf woanders an.«
Wir hörten Geschlurfe, die Tür schlug zu, mein Vater kam allein in die Wohnstube zurück.
Strijbos wurde immer blasser. Er magerte ab und bekam etwas Gespenstisches. Wenn er mir auf der Straße entgegenkam, bog ich lieber in eine andere Gasse ein. Er wurde eine Plage für alle Gläubigen. Er, der früher einmal eine große Stütze der Gemeinde gewesen war – viele Jahre Diakon, als er noch unter dem Deich wohnte, und prompt Presbyter, als er sich den wenigen Reformierten anschloss, die über dem Deich zu Hause waren –, wurde zu einem Anstifter von Streit und Zwietracht.
Es war schon Sommer, als er mich am Hafen ansprach. Ich versuchte noch, durch den Zure Vissteg zu entwischen, aber er machte so große Schritte in meine Richtung, dass ich keine Chance hatte.
»Sag deinem Vater«, redete er sogleich auf mich ein, »er soll Apostelgeschichte 9, Vers 7 lesen und dann Apostelgeschichte 22, Vers 9. In 9 wird über die Männer, die mit Paulus nach Damaskus reisten, gesagt: ›Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen
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