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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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tatsächlich nach Amerika. Mit Jan gingen all seine Brüder und Schwestern, die die unteren Klassen bevölkert hatten. Es war fast, als sei der Schulhof, ja, das ganze Sanierungsgebiet nach ihrem Weggang viel leerer. Wir bekamen hin und wieder noch einen Brief, der in der Klasse vorgelesen wurde. Der jeweils nächste Brief enthielt immer mehr englische Wörter, sodass wir dank Jans Auswanderung eine ordentliche Portion Englisch lernten. In der sechsten Klasse schrieb er ausschließlich auf Englisch, und wir durften versuchen, seine Briefe zu übersetzen.
    Was mich erstaunte, war, dass er berichtete, er wohne dort in einem Haus, gehe während der Woche zur Schule und am Sonntag in die Kirche und sammele Briefmarken. Sein Leben glich unserem aufs Haar. Wozu dann emigrieren? Offenbar blieb alles gleich. Der einzige Unterschied war, dass Jan jetzt nicht mehr in einem Sanierungsgebiet wohnte. Aber dafür hätte er doch nicht so weit wegziehen müssen? Oben am Deich wohnte man doch auch nicht mehr im Sanierungsgebiet. Ich verstand nicht, warum er nie vom Silbersee und vom Llano Estacado berichtete. Die Enttäuschung darüber ließ mich hoffen, dass mein Vater, der plötzlich auch vom Emigrationsvirus befallen war, seine vagen Pläne, nach Kanada zu gehen, aufgeben würde. Doch er ließ, so wie viele andere aus unserem Abrissviertel, aus Rotterdam zwei Männer kommen, die sogar an Wochentagen einen grauen Anzug trugen und die im Flur unseres Hauses zwei Demihomburgs vom Kopf nahmen. Als sie sich am Tisch in der Wohnstube niederließen, schien es fast, als wären Presbyter zu Besuch, und wie bei diesen Gelegenheiten musste ich auch jetzt zu Bett gehen. Auf dem Dachboden konnte ich jedoch, ein Ohr auf den Fußboden gepresst und eine zusammengefaltete Decke auf dem anderen, um das Geräusch der unter den Dachziegeln herumfuhrwerkenden Spatzen zu dämpfen, recht gut hören, was unten gesagt wurde. Es war immer wieder von einem »ganz neuen Leben« die Rede, von »nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten«. Es wurde gesagt, mein Vater werde kein »gemachtes Bett« vorfinden, dass aber »jemand, der bereit ist, die Ärmel aufzukrempeln, unbegrenzte Möglichkeiten« habe. Sehr viel hänge auch von der »Hausfrau und Mutter« ab. Konnte sie mit einem »Traktor umgehen«, »Holz hacken«? Würde sie helfen, »einen großen Betrieb zu bewirtschaften«? Wichtig war auch, dass man was »auf der hohen Kante« hatte. Aus den Fragen, die mein Vater stellte, schloss ich, dass er nur gehen würde, wenn dort in Kanada, Australien oder zur Not Neuseeland ein Stall mit vierzig schwarzbunten friesischen Milchkühen bereitstünde.
    »Auf gar keinen Fall rotbunte oder fahle Kühe«, hörte ich ihn sagen, »denn mit Roten und Fahlen hat man nur Qualen.« Woraufhin einer der Demihomburgs berichtete, dass es »auf der anderen Seite« fast nur gemischte Betriebe gebe, die sich hauptsächlich auf den Anbau von Roggen, Hafer, Weizen und Mais konzentrierten.
    »Mais?«, fragte mein Vater erstaunt. »Hühnerfutter?«
    »Da drüben essen die Menschen den Mais selbst«, sagte einer der Hüte.
    »Die Leute essen Mais?«
    Wenn mein Vater die Emigration je ernsthaft erwogen hatte und es kein Trick war, um bei der Gemeinde die von ihm so heiß begehrte Totengräberstelle zu bekommen, dann hatte die Vorstellung, dass man »auf der anderen Seite« Mais für den eigenen Verzehr anbaute, ihn noch einmal ins Grübeln gebracht. Manchmal saß er da, trommelte auf seiner Stuhllehne und murmelte: »Mais.« Er sprach es aus wie den Namen einer schrecklichen Krankheit.
    Trotzdem war ich in jenen Monaten davon überzeugt, dass wir nach Kanada gehen würden. Manchmal lachte mich die Vorstellung an, dann sah ich mich selbst, auf einem Traktor sitzend und einen riesigen Mähdrescher durchs Kornfeld ziehend. Doch an anderen Tagen ging ich untröstlich am Maasufer entlang und sog, sofern das mit meiner triefenden Nase noch ging, den Duft des Flusses ein. Ich habe damals, im Schatten des über meinem Haupt schwebenden und, so wie es aussah, unvermeidlichen Abschieds, gemerkt, dass man dazu neigt, zu berühren und zu streicheln, was man – wie sich in diesem Moment zeigt – wirklich liebt. Ich ging mit meiner Seele unter dem Arm durch die Stadt, streichelte die Strebepfeiler der Grote Kerk und sehnte mich leidenschaftlich danach, auf der Garrels-Orgel spielen zu dürfen. Ich legte meine Hand auf die Duckdalben beim Hoofd, betastete die Gaslaternen auf dem Damplein und

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