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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden.‹ In 22 steht: ›Die aber mit mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht.‹«
    »Ich werde es ihm sagen«, erwiderte ich.
    »Er kann vorbeikommen und mit mir darüber reden«, sagte Strijbos. »Heute Abend bin ich zu Hause. Er soll ruhig kommen, wenn er sich traut.«
    »Ich werde es ihm sagen«, antwortete ich.
    Sein Gesicht war leichenblass. Seine Finger zitterten.
    »Das Wort ist ertrunken«, sagte er, »und da ging mir ein Licht auf.«
    Als ich nach Hause kam, nahm ich die Bibel, die auf dem Kaminsims lag. Mit bebenden Händen schlug ich die Apostelgeschichte auf. Ich las: »Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden.« Ich blätterte weiter bis Apostelgeschichte 22 und las: »Die aber mit mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht.« Ich spürte ein merkwürdig kitzelndes Gefühl in meinem Unterleib. Es war, als würde mein Körper von der Taille abwärts im Boden versinken. Wenn die Bibel Gottes Wort und sozusagen vom Heiligen Geist diktiert worden war, dann konnte doch nicht an der einen Stelle stehen »Sie hörten zwar die Stimme« und an der anderen »Aber sie hörten die Stimme nicht«.
    Ich wagte es nicht, meinem Vater die beiden Passagen zu zeigen. Ihm wäre sofort klar gewesen, wer mich auf die Textstellen aufmerksam gemacht hatte. Er wollte den Namen Strijbos nicht mehr hören. Monatelang trug ich dieses eigenartige Rätsel mit mir herum. Sie hörten die Stimme. Sie hörten die Stimme nicht. Wenn ich auf der Straße unterwegs war, hielt ich nach Strijbos Ausschau. Vielleicht hatte ihm inzwischen ein Presbyter oder ein Pastor eine Erklärung liefern können.
    Ein Jahr nach der Flutkatastrophe presste ich mich gegen eine fensterlose Wand in der Witte de Withstraat. Dort war eine Inschrift angebracht. »Bis hier stieg das Wasser am 1. Februar 1953«. Ich hatte dort schon öfter gestanden. Als die Inschrift gerade angebracht worden war, hatte ich mich an die Wand gestellt und mir die Hand auf den Kopf gelegt. Ich war unter meiner Hand hervorgetreten und hatte mich umgedreht. Es war so, wie ich erwartet hatte. Das Wasser war genauso hoch gestiegen, wie ich groß war. Was hatte diese Tatsache zu bedeuten? Ich wusste es nicht, aber es jagte mir Angst ein. Immer wieder kehrte ich zu der Stelle zurück und maß meine Größe. Offenbar wuchs ich nicht mehr, offenbar sollte ich als wandelnder Beweis, als Symbol für den Wasserstand während der Sturmflut durchs Leben gehen. Weil ich neidisch auf all die Leute gewesen war, die in Hubschraubern und Amphibienfahrzeugen gesessen hatten.
    Doch im Jahr 1954 zeigte sich, dass ich doch noch wuchs. Da stand ich, erleichtert, mit einer Hand ein paar Zentimeter über dem weißen Strich; ich hörte eine Stimme, drehte mich um und sah Strijbos.
    »Was machst du da?«, wollte er wissen.
    Er sah weniger gespenstisch aus als bei unserem letzten Treffen.
    »Ich schaue, ob ich höher reiche als bis zu der Stelle, zu der das Wasser gestiegen ist«, sagte ich.
    »Sieht ganz so aus«, meinte er.
    »Wissen Sie schon …?«, fragte ich.
    »Was? Was soll ich wissen?«
    »Wie das mit Saulus auf dem Weg nach Damaskus war.«
    »Saulus? Ach ja, das ist inzwischen eine ganze Zeit her. Hast du das Problem deinem Vater vorgelegt?«
    »Ja«, log ich.
    »Und? Was meinte er dazu?«
    »Er konnte auch nicht helfen«, sagte ich.
    »Oh«, sagte er, »nun, dann berichte deinem Vater, dass man mir inzwischen ein Buch von Klaas Schilder zu lesen gegeben hat. Darin schreibt er, an der einen Stelle sei gemeint: ›Sie hörten zwar die Stimme, aber verstanden oder begriffen nicht, was gesagt wurde‹, und deshalb steht in der anderen Perikope ›Sie hörten die Stimme nicht‹. Damit ist gemeint: Sie verstanden die Stimme nicht. Ja, ja, diese Theologen können fein reden. Die haben für alles eine Lösung. Das sind so dermaßen gewichste Burschen.«
    Was er erzählte, erleichterte mich. Das Problem war der Aufmerksamkeit von Klaas Schilder offenbar nicht entgangen. Und der war nicht vom Glauben abgefallen, sondern hatte eine Erklärung gefunden, eine Lösung, die stimmte oder nicht stimmte, das spielte gar nicht so eine große Rolle. Man hatte darüber nachgedacht.
    »Mein Junge«, sagte Strijbos, »ich geh dann mal weiter. Aber eines will ich dir

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